[Sonntag, 22.3.2020]
Es ist gerade ein bisschen schwierig, die Dinge realistisch einzuschätzen. In der Zeit vor Corona wurde immer viel davon gesprochen, dass wir zu viel im Internet rumhängen und dass man doch mal das Smartphone weglegen und dass man RAUS gehen soll, in die RICHTIGE Welt, dahin, wo das ECHTE Leben stattfindet. Aber dieses Draußen, das angeblich richtige, echte Leben mit den echten Menschen, das ist zumindest für mich bis noch mindestens 4 Wochen lang gestrichen. Dabei kommuniziere ich genauso viel wie vorher, zumindest digital, allerdings jedoch nur mit meinen Freund*innen, mit denen ich in politischen und sozialen Fragen meistens mindestens ähnlicher Meinung bin. Ich weiß gar nicht, ob ich damit wirklich meine Perspektive vervollständigen oder mich einfach nur selbst geißeln wollte, jedenfalls habe ich in den letzten drei Tagen das Internet nicht nur genutzt, um das Corona-Update mit Christian Drosten zu hören, sondern versehentlich doch wieder in die sozialen Medien geschaut. Es gibt dort erschreckend viele Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen als eine staatlich angeordnete Ausgangssperre, und zwar möglichst rigoros und am besten sofort.
Ich war spazieren, gestern bin ich einmal zum Wasser gelaufen und heute war ich im Wald und es waren überall Menschen, aber sie waren alle allein oder zu zweit oder mit ihren Kindern unterwegs. Eine Frau wechselte bei meinem Anblick die Straßenseite (endlich wirke ich gefährlich genug!). Wie Planeten bewegten sie sich auf ihren Umlaufbahnen, die meist auf den äußeren Kanten der vorgegebenen Wege verliefen, es gab keinen Sicherheitsabstand, der nicht eingehalten wurde. Selten habe ich mich so sicher gefühlt, wenn ich allein in der Stadt unterwegs war. Ich beobachtete die anderen Spaziergänger*innen aus der Ferne und fragte mich, ob irgendwer von ihnen zu den Menschen gehörte, die nach einer Ausgangssperre lechzten, denn offensichtlich hielten sie sich ja ganz vorbildlich an die Regeln, die jetzt galten.
Vielleicht hatte ich auch Glück und habe nur einen besonders gut gelungenen Ausschnitt dieses echten, richtigen Lebens gesehen, in dem Menschen sich aus Solidarität ihren Mitmenschen an sinnvolle Regeln halten wollen und diese kompetent in ihre alltägliche Praxis integrieren. Vielleicht laufen nur zwei Kilometer weiter Leute rum, die sich zu zehnt zusammenrotten und gezielt andere Menschen anhusten. Wer weiß. Ich verstehe, dass es gerade völlig unmöglich ist, sich einen umfassenden Eindruck über die Dinge zu verschaffen. Was ich aber nicht verstehe: Wie kann man sich so sehr danach verzehren, endlich etwas verboten zu bekommen?
(Nur damit hier nicht der Verdacht aufkommt, dass ich die Corona-Pandemie verharmlosen wollen würde: Ich halte die allermeisten der bisher getroffenen Maßnahmen für richtig, aber dieser Autoritätsfetischismus, der überall durchblitzt, davon bekomme ich Albträume.)