Frühlingsanfang

[Freitag, 20.3.2020]

Zwischen den Narzissen, die auf dem Mittelstreifen auf dem Westring blühen, liegt eine Plastikfolie, die ich gerne aufsammeln und wegwerfen würde. An der Ampel steht eine junge Frau mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand, aber es sieht nicht so aus, als würde sie im Gehen darin lesen wollen. Fände ich offen gestanden auch ein wenig gefährlich, obwohl ich genauso Lust hätte, zu flanieren und gleichzeitig ein Buch zu lesen und es manchmal schwierig finde, mich zwischen beiden Aktivitäten zu entscheiden. Aber mit Aktivitäten ist gerade ohnehin nicht viel. Meine leichte Erkältung ist immer noch da (kein Fieber, kein Husten, keine Atemnot, daher sehe ich bis auf weiteres davon ab, die 116117 zu blockieren und mache einfach mit bei #staythefuckhome), also liege ich auf dem Tagesbett und spiele Quizduell und Scrabble GO (meine Spielerinnen-ID ist 99315282, falls jemand möchte) und zwischen den Zügen meiner Gegner*innen lese ich MALINA von Ingeborg Bachmann, also tue ich immerhin auch zwei Dinge simultan (nur laufe ich nicht Gefahr, jemanden umzurennen).

MALINA schmerzt im Übrigen deutlich mehr als mein kratziger Hals. Ich möchte eine Passage daraus zitieren, die ich gestern gelesen habe:
Auf einem kleinen Schiff beginnt mein Vater einen großen Film zu drehen. Er ist der Regisseur, und es geht alles nach seinem Willen. Ich habe schon wieder klein beigegeben, denn mein Vater möchte ein paar Sequenzen mit mir drehen, er beteuert, ich werde nicht zu erkennen sein, er hat den besten Maskenbildner. Mein Vater hat sich einen Namen zugelegt, niemand weiß welchen, er war schonmal in Leuchtschriften über den Kinos der halben Welt zu sehen. Ich sitze wartend herum, bin noch nicht angezogen und geschminkt, habe Lockenwickler auf dem Kopf, nur ein Handtuch über den Schultern, aber plötzlich entdecke ich, daß mein Vater die Situation ausnutzt und heimlich schon dreht, ich springe empört auf, finde nichts, um mich zu bedecken, ich laufe trotzdem zu ihm und dem Kameramann hinüber und sage: Hör damit auf, hör sofort auf! Ich sage, dieser Filmstreifen müsse sofort vernichtet werden, das habe nichts mit dem Film zu tun, denn es ist gegen die Abmachung, der Streifen müsste entfernt werden. Mein Vater antwortet, gerade das wolle er, es werde die interessanteste Stelle im ganzen Film werden, er dreht weiter.
(Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. Frankfurt 1971, S. 208f.)

Ich will über diese Stelle jetzt keinen Essay verfassen (u.a. weil ich schon wieder ein paar Quizduelle auszufechten habe), aber finde es sehr aufschlussreich, diesen fast 50 Jahre alten Text einmal aus einer gegenwärtigen Perspektive zu betrachten. Diese verstörende Szene, aus der ich zitiere, hätte ebenso im Kontext von #metoo von einer Schauspielerin erzählt werden können. Bachmann, die weder Zeitgenossin mit Harvey Weinstein (23 Jahre Knast und ein Rückenleiden dazu sind genau das, was er verdient) war noch jemals einen Fuß nach Hollywood gesetzt hat (ich weiß allerdings nicht, was sie 1956 als Dramaturgin beim Bayerischen Fernsehen erlebt hat), verbildlicht mit dieser Szene (und natürlich mit dem Roman insgesamt), wie sehr die patriarchale Gewalt in der Gesellschaft* der Protagonistin das Leben zur Hölle macht. Kleiner Spoiler an dieser Stelle: Die Protagonistin wehrt sich, zerstört tatsächlich den Film und wird dann dafür verantwortlich gemacht, dass die Dreharbeiten in die Hose gegangen sind. Es ist wie im echten Leben. Falls euch also mal wieder jemand mit dem Scheinargument kommt, #metoo seien ja eher Hollywood-Interna und es gebe keinen Sexismus oder gar sexualisierte Gewalt in der normalen Gesellschaft: Erzählt ihnen von Ingeborg Bachmann und Malina, denn wenn sich irgendwo etwas Allgemeingültiges ableiten lässt, dann jawohl aus der Literatur.**

*In dem Fall konkret die österreichische Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, aber so arg weit weg ist die von der deutschen Gegenwart nun auch wieder nicht.
**Den Nachweis für diese steile These liefere ich VIELLEICHT nach.

PS: Auf dem Mittelstreifen liegen mittlerweile auch eine leere Brötchentüte und ein Coffee2go-Plastikdeckel zwischen den Narzissen.

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