Albträume / Brückenlockdown / Regen / Hagel / Schnee

Einen Traum gehabt, der sich am ehesten wohl als Albtraum aus dem digitalen Zeitalter einordnen lässt: Ich bin schwanger und stehe so kurz vor der Geburt, dass ich vorsorglich schon einmal ins Krankenhaus gefahren bin, obwohl die Wehen noch gar nicht eingesetzt haben. Während ich mit zwei (mir aus dem RL nicht bekannten) Kumpels im Patientinnenzimmer darauf warte, dass irgendwas passiert, fällt mir ein, dass ich während der ganzen Schwangerschaft nie beim Ultraschall war. Ich habe also vergessen, das Baby freischalten zu lassen. Das erklärt natürlich einiges!

Mein Urlaub in dieser Woche fühlt sich kaum anders an als mein pandemisch geschrumpfter Arbeitsalltag. Die wenigen Aufgaben, die ich im Kurzarbeits-Home-Office erledige, fühlen sich an wie Wäsche aufhängen oder die Spülmaschine ausräumen. Ein wenig lästig, aber beiläufig, mit Deutschlandfunk nebenher. Irgendwo ganz weit weg von mir wird über einen Brückenlockdown oder das Vorziehen der nächsten MPK oder einen kurzen harten Lockdown und die weitere Einschränkung der Freizeitaktivitäten diskutiert und ich denke: Selten sind einer verantwortlichen Gruppe von Menschen bei dem Versuch, eine bestimmte Sache auf Teufel komm raus zu vermeiden (lies: einfach mal alle nicht-essentiellen Arbeitsstätten dichtmachen und die Leute bei vollem Lohnausgleich zuhause lassen, auch wenn dann die Wirtschaft weint), so brachial die Ideen ausgegangen wie der Regierung jetzt gerade.

Es schneit, regnet und hagelt seit drei Tagen nach einem undurchschaubaren Muster. Der Sonnenschein dazwischen kann nichts anderes sein als ein klug ausgelegter Köder. Es ist April, ich werde in 11 Tagen 32 Jahre alt sein. Ich habe einige graue Haare und seit 12 Jahren Albträume von Schwangerschaften.

Die schönste Havarie aller Zeiten

Ich gebe zu: Ich bin ein kleines bisschen besessen von der Tatsache, dass seit Mittwoch ein 400 Meter langes Containerschiff im Suezkanal feststeckt. Da die „Ever Given“ nicht nur auf Grund gelaufen ist, sondern auch noch quer steht, ist dort absolut kein Durchkommen. Es stauen sich bereits über 300 Schiffe, manche haben bereits beigedreht und den Umweg um Afrika in Kauf genommen. Im Internet kursieren bereits zahlreiche Bilder von Baggern, die das Schiff behutsam freibuddeln (die Gezeiten sollen dabei auch helfen, immerhin) und daneben rührend winzig aussehen. Das querstehende Schiff in einer der wichtigsten Wasserstraßen der Welt erinnert mich unangenehm an mein ungeschickten Versuche, mit einem Auto am Straßenverkehr teilzunehmen. Wie jeder Mensch mit Impostor-Syndrom liege ich schon mein ganzes Leben lang nachts oft wach und überlege, wo ich am Vortag oder vor zehn Jahren versagt habe oder in Zukunft versagen werde, aber diese monumentale Havarie dank Internet beinahe in Echtzeit verfolgen zu können, verschafft mir tatsächlich so etwas wie Linderung. Egal, was ich in den letzten Jahren verbockt habe: Immerhin habe ich niemals mit einem wirklich großen Schiff einen viel befahrenen Kanal verstopft! Das Schöne an diesem Missgeschick ist auch, dass es nun ausgerechnet ein Containerschiff ist, dem das gelingt, wessen sich die bundesdeutsche Corona-Politik konsequent verweigert. Endlich wird hier mal ein bisschen Kapitalismus lahmgelegt. Mit dem völligen Versagen der Regierung in der Pandemiebekämpfung (statt Osterlockdown gibt es jetzt, äh, einfach gar keine Strategie für die dritte Welle?) hat der bedauernswerte Kapitän der Ever Given nun eigentlich nichts zu tun. Trotzdem sieht das zweifelhafte Wasserballett auf dem offenen Meer und das anschließende drastische Auf-Grund-Laufen und Verstopfen des Suezkanals aus wie ein sehr schnippischer Kommentar auf die Lage in Deutschland. Vielen lieben Dank dafür!

Die Spionin aus dem Erdgeschoss

Albträume, zur Zeit fast jede Nacht. In dieser Nacht werde ich Zeugin eines Einbruchs, den das Herrchen von Flocke (Name geändert) aus meinem neuen Hunde-Bekanntenkreis vornimmt. Eine Nachbarin aus dem Erdgeschoss beobachtet, was ich beobachte, missinterpretiert mein Beobachten jedoch als Komplizinnenschaft (ist es das vielleicht auch?). Sie beginnt, meine Wohnung zu bespitzeln, ich sehe die Schatten der Pfoten ihres Schäferhunds (den sie in der Realität nicht besitzt, obwohl ein Sticker an ihrer Wohnungstür vor einem solchen Haustier warnt) den Lichtstrahl unter der Tür durchbrechen, vielleicht sogar seine Schnauze durch den Staub auf dem Boden schnüffeln. Die Nachbarin aus dem Erdgeschoss steht derweil mit einer Freundin, die sie in ihr Spitzelteam geholt hat, auf meinem Balkon. Ich sehe ihre missbilligenden Blicke durch den Schlitz des Vorhangs, den ich an der Balkontür angebracht habe.

Wahrscheinlich muss ich mehr auf meine Schlafumgebung achten. BERLIN ALEXANDERPLATZ steckt mir noch in den Knochen (ich sollte vermutlich dankbar sein, dass ich nicht von Albrecht Schuch geträumt habe), als mir das Corona-Update der Tagesschau auf Instagram die Verlängerung des Lockdowns voraussichtlich bis zum 18. April vorankündigt (die MPK wird dies allerdings erst später am Tag entscheiden). Noch im Bett liegend nehme ich alle ohnehin noch nicht ausgesprochenen Einladungen zu meinem zweiten Lockdown-Geburtstag wieder zurück. Gleich bringe ich den Computer, auf dem ich diese Zeilen hier schreibe, zur Reparatur. 3-5 Werktage ohne Gehirn liegen vor mir (dabei habe ich meine Daten natürlich vorbildlich gesichert). Vielleicht auch 3-5 Werktage ohne Albträume, aber dafür müsste vielleicht auch die Gegenwart 3-5 Werktage in einen richtigen Lockdown gehen (wenn es nur so einfach wäre).

Symmetrische Schwankungen

Dieses frühes-21.-Jahrhundert-Lebensgefühl: Jeder richtige Winter könnte der letzte richtige Winter gewesen sein. Ich verkomme zur Wetternostalgikerin, aber bei symmetrischen Temperaturschwankungen vom Minus- in den Plusbereich auf dem Thermometer ab 10 Grad Celsius komme ich einfach nicht hinterher. Ist Mitte/Ende Februar nicht eigentlich viel zu früh für Frühlingstemperaturen? Ich mag mir kaum vorstellen, wie viel von dem, was jetzt austreiben könnte, durch die mittlerweile zum Standard mutierte Kältewelle zu Ostern wieder zerstört wird.

Die Straßen draußen tun derweil so, als sei nichts gewesen, keine Spuren mehr von dem Schnee der letzten Woche, von einem ganz vermatschten Haufen in einer schattigen Ecke abgesehen. Ich will seit einigen Tagen einen Artikel über den Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und der Corona-Pandemie suchen, den ich vergessen habe zu speichern, habe aber eigentlich zu viel Angst davor, ihn zu lesen. Stattdessen schaue ich bei YouTube Haarschneide-Tutorials für Frisuren, die ich mir niemals schneiden werde, und google zum Spaß Bilder von Yaks und Galloway-Rindern. Angeblich machen im März die Friseure wieder auf, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, einen aufzusuchen. Eigentlich fühlt sich Wildwuchs bis zum Ende der Pandemie an wie das einzige richtige Konzept, und wenn die eines Tages vorbei sein sollte, haben wir immer noch genug andere Krisen, gegen die sich haariger Wildwuchs irgendwie schützend anfühlen wird. Ich verzichte auf das Gefühl von Frühlingsluft in meinen Haaren, weil ich mir ohne Mütze unvollständig vorkomme, obwohl sich der Winterkokon jetzt schon viel zu warm anfühlt.

Das brennende Herz

Ich bin im Begriff, etwas zu tun, wovor alle warnen: Schaff dir bloß keinen Hund an! Trotzdem war ich Freitag Welpen angucken, wovor ebenfalls alle gewarnt haben: Mach das bloß nicht, dann nimmst du am Ende noch einen mit! (Als ob irgendeine halbwegs seriöse Person mit Welpenverantwortung einem einfach so einen Hundewelpen mitgeben würde – braucht ihr eine Tüte? Nee danke, der geht so mit. So läuft das nicht!). Das einzige, was M. und ich mit nach Hause genommen haben, waren ein paar verwackelte Fotos von einer Art gefleckter Riesenbohne mit rosa Füßen und rosa Nase. Es dauert noch 48 Tage, bis die Riesenbohne groß genug ist, um bei uns einzuziehen. Seit unserem Besuch an dem magischen Ort, an dem die Hundewelpen spawnen, sind nun knapp zwei Tage vergangen, in denen die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Kiel von 60 auf 75 geklettert ist (kann sein, dass der Startwert am Freitag sogar erst bei 50 lag, ich weiß es nicht mehr genau). In der gesamten Bundesrepublik haben die täglichen Neuinfektionen mittlerweile einen Wert erreicht, den ich mit meinem eher schlechten Zahlenverständnis kaum erfassen kann. Ich verbringe Stunden damit, abwechselnd Erziehungstipps für Hundewelpen zu lesen und auf Diagramme mit stark exponentiell ansteigenden Kurven zu starren. Die Kieler Infektionskurve ist seit der Geburt der kleinen Riesenbohne vor 15 Tagen von einem halbwegs beruhigenden Wert auf den Wert von April geklettert. Wie steil kann sie noch werden, bevor sie sich zur vertikalen Linie verwandelt? Was natürlich aufgrund der fortlaufenden Zeitachse keine darstellerische Option ist, aber eine beruhigende Erkenntnis ist das nicht. Vor uns liegen ein noch nicht ganz aufgebrauchter Oktober, ein ganzer November und noch ein paar Tage Dezember; knapp sieben Wochen, eine Zeitspanne, über die der Trend sagt: ES WIRD ALLES RICHTIG BESCHISSEN, und ich bin kurz davor (in Wahrheit schon dabei), eine höhere Macht anzuflehen: Bitte kein Weltuntergang, so lange der Hund noch nicht da ist! (Und danach gerne auch nicht).

Eigentlich sollte ich entspannter sein, ich bin schließlich nicht schwanger während Corona, sondern warte nur auf meinen Hund, mit dem ich ja auf jeden Fall rausgehen muss/darf, egal, wie streng der nächste Lockdown wäre. Vielleicht ist es auch nur so, dass ich dieses mir bisher unbekannte Cuteness-Level in meinem Leben gegen alles Hässliche in der Welt verteidigen möchte und gleichzeitig fürchte, dass ich es nicht kann. Und so weiß ich zum ersten Mal während der Pandemie tatsächlich nicht, wie ich die Zeit bis zu Zeitpunkt X totschlagen soll, obwohl ich bis dahin eigentlich genug zu tun habe. Doch das wissen vermutlich alle, die schon einmal in prekären Zeiten auf etwas gewartet haben: Brennende Herzen sind nicht gut im Sitzen.

Deutscher Herbst 2020

Sich vor Nasen ekeln
Die Handschuhe vom letzten Winter nicht mehr finden; sich wieder daran erinnern, dass sie auf einem der ewig langen, ziellosen Spaziergänge während der ersten Welle verloren gegangen sind
Sich von einem Podcast die Medikation eines an Covid-19 erkrankten Faschisten in Regierungsverantwortung erklären lassen
Vorsichtig über vom Sturm durcheinander gewirbelte E-Scooter steigen
Keine Lust auf Zoom
„Pilzpfanne“ denken, ein diffuses Gericht mit Champignons kochen
Autos fahren mit Absicht in Demonstrierende wie in den USA (Allerdings nur ein Zwischenfall)
Feststellen: Der neue Wintermantel ist für aktuelle Temperaturen (10°C) ganz okay
Hoffnung und Befürchtung in einem: Kälter als jetzt wird es sicher nicht mehr werden

Google+

Neue Lieblingsbeschäftigung gefunden, die vermutlich auch allein, aber vor allem Corona-kompatibel mit per Discord oder Skype zugeschalteten Freund*innen viel Spaß macht: Die Anfänge von Fragesätzen in die Suchzeile von Google eintippen und die verschiedenen Auto-Vervollständigungsvorschläge bewundern. Es war eigentlich als Schreibübung gedacht: Schreibe einen Text über den ersten (oder dritten oder letzten) Vorschlag in der Liste (und beantworte ggf. die gestellte Frage). Allerdings sind die Ergebnisse der Auto-Vervollständigung so aufrüttelnd, dass wir zum schreiben kaum kommen, obwohl wir völlig neutrale Wörter in das Suchfeld eintippen (die Listen mit den Vorschlägen, die z.B. auf „Können Frauen…“ folgen, dürften ja vielleicht bekannt sein).

Wir fangen an mit: Wann wird endlich
Meine Ergebnisse:
Wann wird endlich wieder Sommer
Wann wird endlich Sommer 2020
Wann wird endlich die Maskenpflicht abgeschafft
Wann wird endlich die Maskenpflicht aufgehoben
Wann wird endlich wieder Sommer text
Wann wird endlich mit t geschrieben
Wann wird endlich die Reisewarnung in die Türkei aufgehoben

Ich finde die Naivität, die hinter dem Versuch steckt, Google eine aufschlussreiche Antwort auf „Wann wird endlich Sommer 2020“ zu entlocken, fast ein bisschen süß. Sicherlich gab es da gute und für jeden verfügbare meteorologische Prognosen, aber ich würde behaupten, dass die gewünschte Antwort gewesen wäre: Am 13. Juli, also nächste Woche. Du kannst schonmal neue Sonnencreme kaufen. In unserer Runde bin ich die einzige, die „Wann wird endlich mit t geschrieben“ in ihrer Zusammenstellung hat. Diese Frage kann ich auch ohne Google beantworten: Nie!

Nächste Runde: Wie lange sollte man
Meine Ergebnisse:
Wie lange sollte man schlafen
Wie lange sollte man stillen
Wie lange sollte man Kontoauszüge aufbewahren
Wie lange sollte man joggen
Wie lange sollte man Zähne putzen
Wie lange sollte man trainieren
Wie lange sollte man sich sonnen

Niemand von uns weiß, wie lange man Kontoauszüge tatsächlich aufbewahren sollte. In Zeiten von Online-Banking ist das eine zurecht fast ausgestorbene Papierdokumentengattung. Ich finde manchmal noch vereinzelte Exemplare davon in Kramschubladen und -kisten und müsste vielleicht mal googeln: Wie entsorgt man Thermopapier richtig? Unsere Suchergebnisse gehen fast gar nicht auseinander, nur A. hat als einzige: Wie lange sollte man Brotteig gehen lassen? Sie hat noch nie in ihrem Leben ein Brot gebacken und plant das auch nicht für die Zukunft, sagt sie ziemlich bestimmt; wir müssen ihr das glauben.

Die Ergebnisse der letzten Runde sind nahezu poetisch:
Womit macht man am meisten Geld
Womit macht man Löcher in der Wand zu
Womit macht man Männern eine Freude
Womit macht man einen Einlauf
Womit macht man Beach Waves
Womit macht man Caipirinha
Womit macht man Mojito
Womit macht man Gras klein
Womit macht man Fernseher sauber
Womit macht man Spaghettieis

Zumindest die letzte Frage kann ich aus eigenen Erfahrungswerten (traumatische 1 1/2 Monate Ausbeutung in einer Eisdiele, die es nicht mehr gibt): Was man für die Herstellung von Spaghettieis braucht

Vanilleeis (2-3 Kugeln)
Vorstellungskraft
Eine gewisse Portion Abgebrühtheit
Keinerlei Respekt vor der italienischen Küche
Erdbeersauce
Relativ viel Kraft
Weiße Schokoladenflocken in Parmesan-Optik (grob gerieben, nicht so wie das Käsefuß-Abrieb-Granulat aus der Miracoli-Packung, das es darin nicht mehr gibt)
Eine Spaghettieis-Quetsche (so ähnlich wie eine Knoblauch-Presse, nur in groß)
Einen Stromanschluss.


Spooktober

Ich bin jedes Jahr überrascht, wenn sich das spätsommerliche Mittelmaß des Septembers im Oktober tatsächlich in echten Herbst verwandelt. Auf dem Weg zum Bäcker trage ich meinen neuen Wintermantel, für den es vor ein paar Tagen noch zu warm war, eine Jogginghose, die ein bisschen zu dünn ist, Socken mit Weihnachtsmuster und eine ausgeleierte Mütze auf meinen Haaren, die nach dem Aufstehen völlig unangetastet geblieben sind (und auch den übrigen Tag bleiben werden). Die Luft riecht nach Schnee, über den die Leute sagen, dass er nicht liegen bleiben wird. Die Schlange bei Bäcker Günther im Kronshagener Weg reicht bis in die Metzstraße und dort fast bis zum ersten Dönerladen am Dönerdreieck (was ein bisschen übertrieben ist, eigentlich sind es nur drei oder vier Leute, die noch in der Metzstraße stehen). Die Corona-Karte von der ZEIT, die ich hin und wieder anschaue, vermeldet, dass es in der vergangenen Woche 23.682 Neuinfektionen gab. In Kiel sind es zwar nur 10 (4,1 je 10.000 Einwohner*innen), aber damit das so bleibt, darf nur noch eine Person zur Zeit in den Bäckerladen, in dem es für mehr als zwei Personen ohnehin zu klaustrophobisch ist. Ich bin neidisch auf die anderen Jogginghosen in der Schlange (dickerer Stoff, rot-blau-weißes Muster mit Adidas-Streifen, die Bündchen an den Füßen nicht ausgeleiert).

Wenn ich zu diesem Bäcker gehe, komme ich normalerweise vom Westring und gehe auf dem Rückweg durch die Metzstraße zurück, um nicht zweimal denselben Weg zu laufen, aber der Fußgängerweg in der Straße ist so eng, dass ich heute ausnahmsweise über den Westring zurückgehe. In einem Fenster im Erdgeschoss sitzt eine Katze, die mich abschätzig mustert, als ich daran vorbeigehe. Sie ist dunkelgrau mit einer weißen Brust und hat Vampirzähne (vielleicht als Vorbereitung auf Halloween). Andere Fenster im Erdgeschoss sind mit Spitzengardinen verhangen, die vermutlich nur zum Fensterputzen aufgezogen werden. Zwischen den Vorhängen und den Fensterscheiben stehen nicht immer, aber oft Deko-Katzen, -Eulen, -Schweine und -Frösche auf der Fensterbank. Ich wundere mich jedes Mal darüber, dass die Gesichter dieser Keramiktiere zur Straße gewandt sind, aber heute fällt mir eine Antwort ein: Weil die Besitzer*innen dieser Dekorationsartikel sie aufgrund der immer zugezogenen Spitzengardinen nie zu Gesicht bekommen, schauen sie auf die Straße und nicht in die Wohnzimmer, in denen sie eigentlich stehen. Die Deko ist also für die Flaneusen, die im Vorbeigehen in die Fenster schielen. Eigentlich eine süße, fast selbstlose Geste – aber warum sind es immer nur Porzellantiere, deren kalte, leere Augen uns kalte Schauer über den Rücken jagen?

Panic! on the Sidewalk

Es ist plötzlich so warm geworden, was mich eigentlich nicht verwundern sollte, weil es ja schon fast Juni ist, also fast der Monat, in dem der längste Tag im Jahr ist, aber ich bin trotzdem überrascht, dass es in einer handelsüblichen Jeans zumindest in der Sonne irgendwie zu warm ist. Vielleicht bin ich auch überrascht darüber, dass sich nach den vergangenen 3-13°C warmen heiter bis wolkigen Tagen voller Zahlen und Kurven und Interviews und Podcasts und Zuhausebleiben doch irgendwas ändert, das ich mit meinem eigenen Körper nachprüfen kann (und auch gern tun will). Woran ich mich nie wieder gewöhnen können werde: Dass meine Abneigung gegen allzu viel Kontakt und Nähe zu zufälligen Menschen plötzlich doch nicht mehr salonfähig ist. Ich spaziere heute durch eine Straße, in der einige Geschäfte offenbar vergessen wurden. Das ehemalige Büro eines Kammerjägers trägt seit vielen Jahren eine riesige Nahaufnahme von einer Wespe, eine Rattenfamilie und die Bäuche einiger Kakerlaken als Fensterschmuck, aber Spuren menschlicher Benutzung kann ich nie erkennen, wenn ich daran vorbeilaufe. Wie soll ich die Bilder auf dem Fensterglas interpretieren: „Diese Schädlinge entfernen wir für Sie!“ oder „Wir waren so lange nicht hier, dass diese Tierarten nun überhand genommen haben!“? Deutlich mulmiger wird mir, als ich an einem Antiquitätenladen vorbeilaufe, vor dem ein Transporter halb auf dem Fußweg parkt, wo auch der Ladenbesitzer mit ausgestreckten Beinen auf einem Korbstuhl sitzt, ein weiterer Mann über einer Wühlkiste kniet und eine ältere Dame mit Gehstock einen gigantischen Wendekreis einschlägt, um über eine kleine Kellertreppe in das innere des Ladens zu gelangen. Keine Chance, hier mit genügend Sicherheitsabstand vorbeizukommen. Ich bleibe stehen und hoffe, dass mich niemand anspricht, oder anschnackt, denn die Leute vor dem Geschäft sehen aus wie Leute, die gern andere Leute anschnacken. Nach drei Monaten legitimer Distanzhaltung sind mir jegliche soziale Kompetenzen zum angeschnackt werden abhanden gekommen. Ich betrachte eine Milchkanne aus Kupfer und hoffe, dabei nicht gesehen zu werden, ich will nicht einmal sagen müssen, dass ich mich nur umschaue, ich schaue mich ja eigentlich auch gar nicht um, ich warte nur darauf, dass ich weitergehen kann, ohne hier irgendjemandem zu nahe zu kommen. Brauche ich so eine Kanne? Na ja, ich habe eh kein Geld dabei. Als die Dame mit dem Gehstock auf der ersten Treppenstufe angekommen ist, nehme ich meinen Mut zusammen und schlängele mich an dem Ladenbesitzer und dem Kistentaucher vorbei. „Immer langsam!“, sagt einer von den beiden zu der Dame. Ich glaube, mich haben sie gar nicht gesehen.

Urlaub im Speckgürtel (2)

[21.5.2020]

In der Lokalzeitung steht: „Cliquenbildung ist verboten“, also fallen die Bollerwagentouren sogenannter Väter in diesem Jahr aus (zumindest in Niedersachsen). Es ist also ein ruhiger Himmelfahrtstag in der Lüneburger Heide. Was trotzdem gefährlich ist: „Plopp machen“, also Steine ins Wasser werfen, sagt jedenfalls mein sehr kleiner Neffe. Was eigentlich viel gefährlicher ist: Die Wassertemperatur an dem Bach, an dem wir unsere Füße ins Wasser halten wollen. Die anderen Kinder am Bach kümmert das natürlich überhaupt nicht. Stürze ins Wasser werden einfach hingenommen, nasse Unterhemden absichtlich in den Matsch am Ufer geworfen. Die Eltern stehen resigniert am Rand des Geschehens und haben nichts mehr zu sagen außer „Wir wollen los!“, was ungehört zwischen den Baumwipfeln verhallt. Ich trage heute zum ersten mal im Jahr eine kurze Hose und lege den Grundstein für die sommerliche Dauerverdreckung meiner Füße.