Herbst in der kaltgemäßigten Zone

1.

Während der Finnlandreise zuhause vergessen: Ein realistischer Maßstab für Dinge und Orte, die Menschen kennen könnten oder auch nicht. In Mustarinda, wo ich im September zu den Artists in Residence gehöre, sage ich nicht: „I am from Germany.“ Ich sage: „I am a writer and I live in Kiel.“ Niemand von meinen temporären Mitbewohner*innen hat jemals etwas von der Stadt gehört, in der ich lebe, außer der Malerin aus Helsinki, deren Partner zufällig auch aus Kiel kommt. Eine andere Finnin fragt mich, wie groß Kiel ist. „Half the size of Helsinki“, schätze ich. Helsinki hat etwas über eine halbe Million Einwohner*innen und eine Metro mit roten Plastiksitzen. Was ich auch lerne: In Finnland leben genauso viele Menschen wie in Dänemark. Auf die Region Kainuu umgerechnet bedeutet das: Ich begegne auf 16 Tage verteilt insgesamt 8 Menschen zufällig im Wald.

2.

Das ist ja ziemlich nah an Russland, sagen einige Leute, denen ich von meinen Reiseplänen für den Herbst erzähle und lassen durchblicken, dass sie diesem Umstand einiges Gefahrenpotenzial beimessen. Als ich hundefreundliche Orte zwischen Helsinki und Hyrynsalmi recherchiere, lerne ich, dass die Wölfe in Finnlands Osten gelegentlich mit Hunden aneinandergeraten, was für die Hunde meist nicht gut ausgeht. Viele Leute in den etwas dünner besiedelten Gebieten Finnlands haben Hunde, denen man die Verwandtschaft mit Wölfen noch ansieht. Spitze Ohren, dichtes Fell, Nässe und Kälte sind ihnen völlig egal. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein dünn befellter, schlappohriger Hund und ich als Snack für finnische Wölfe enden?

Aus dem Fenster meines finnischen Schreibzimmers glaube ich einen Wolf zu sehen, der sich auf den zweiten Blick als schwarz-weißer, herrenloser Husky mit Peilsender herausstellt. Im Wald treffe ich einen schwarzen Wolfsspitz in gelber Sicherheitsweste, der sich von seiner Pilze sammelnden Besitzerin abgeseilt hat. Ansonsten keine Wölfe und auch keine Bären. Nur ein Mann in hohen Gummistiefeln, der einen Eimer bei sich trägt, auf russisch, polnisch oder ukrainisch telefoniert und danach wieder im Dickicht verschwindet.

3.

Die nächste Straßenlaterne ist von Mustarinda vermutlich genauso weit entfernt wie das nächste Dorf mit Supermarkt: Etwa 25 Kilometer. Auf der letzten Hunderunde vor dem Zubettgehen, die in den allermeisten Fällen nach Einbruch der Dunkelheit stattfindet, höre ich mein Blut in den Ohren rauschen, jedes Knistern im Gebüsch eine neue Portion Adrenalin für die Nervenbahnen. Als sich in der einzigen wolkenlosen Nacht etwas seltsames Grünes am Horizont zusammenbraut, falle ich vor Schreck nur deshalb nicht in Ohnmacht, weil mir rechtzeitig auffällt, dass das Polarlichter sein müssen.

4.

Die Luft zwischen den Fichten riecht schon am 4. September nach Schnee. Ich bekomme akute Sehnsucht nach Winter und versuche mir die 1,40 Meter hohe Schneedecke vorzustellen, die laut einer Infotafel im April 2020 den Boden hier bedeckt habe. Nyskä, mit der wir eine Tour durch den 10.000 Jahre alten Wald hinter dem Haus machen, erzählt uns, dass viele Kiefern und Fichten diese Schneedecke seit ein paar Jahren nicht mehr tragen können und ihnen deshalb scharenweise die Kronen abknicken. Es liegt am Klimawandel, sagt sie, und dass ihr das Sorgen bereitet.

5.

In Mustarinda bin ich die einzige Person, die keine richtige Funktionskleidung dabei hat. Nach einem längeren Spaziergang durch nasse Blaubeersträucher brauchen meine Dr. Martens fünf Tage, bis sie wieder richtig trocken sind (obwohl sie mit Zeitung ausgestopft auf der Heizung liegen). Ich kann nicht sagen, ob ich grundsätzlich zu naiv oder zu eitel bin, um meine Kleidung an Umwelt und Wetterlage anzupassen. Glücklicherweise gibt es eine große Auswahl an Leihgummistiefeln, dank derer ich die übrige Zeit in Finnland trockenen Fußes durch den Wald komme. Seit ich als Teenager Fräulein Smillas Gespür für Schnee gelesen habe, sehne ich mich nach der ruhigen Kälte borealer Landschaften. Auf dem Breitengrad meiner Träume muss ich nun feststellen, dass ich für ein Leben außerhalb mittelgroßer Städte in gemäßigten Klimazonen nur bedingt geeignet bin.

Trotzdem laufe ich jeden Tag stundenlang wie im Rausch durch den Wald: Auf den Steinen wachsen immer mehr extraterrestrisch anmutende Moosarten, sogar die Blätter der Bodendecker färben sich rot, tote Bäume verwandeln sich in Waldgeister, die über meine endlosen Streifzüge durch den Wald wachen. Ich vergesse die Zeit, verliere mich im Farn und finde trotzdem immer wieder zurück nach Hause.

6.

Als am Abend des 29. Septembers der erste Schnee in Mustarinda fällt, bin ich schon längst nicht mehr vor Ort. Ich trete meine Heimreise am 19. September an, zehn Tage früher als ursprünglich geplant, weil ich das Luxusproblem habe, am 22. September einen Kunstpreis zu bekommen, den ich besser persönlich abholen sollte. Wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln reist und zwischendurch noch die eine oder andere Hunderunde einplanen muss, dauert es zwei bis drei Tage, die knapp 2000 Kilometer zwischen Mustarinda und Kiel zurückzulegen. Knapp 30 Stunden der Reisezeit verbringe ich auf der Fähre von Helsinki nach Travemünde. Die meiste Zeit davon liege ich auf dem Bett in meiner Kabine, von der Ostsee sanft in einen leichten Dämmerschlaf geschaukelt, schaue abwechselnd finnisches und deutsches Fernsehen, ungefähr zehn Folgen Pawn Stars und später hauptsächlich Nachrichten, als mir auf diversen Kanälen immer wieder ein und dasselbe Bild von Putin begegnet: Der Blick in die Kamera gerichtet, ein Arm flach auf dem Tisch, einer aufgestützt und angewinkelt, als würde er gleich durch den Bildschirm springen wollen. Die finnischen Untertitel seiner Fernsehansprache sagen mir selbstredend nichts. Erst im ARD Morgenmagazin lerne ich den merkwürdigen Begriff „Teilmobilisierung“. Die allzu vielen Buchstaben des finnischen Äquivalents finden gar nicht erst den Weg durch meine Stirnfalten.

7.

Auf dem Parkplatz vor dem Fährterminal in Travemünde sieht es am 21. September gegen 22 Uhr genauso aus wie vor drei Wochen um dieselbe Zeit: Trotz Straßenlaternen ziemlich dunkel. Nur das Pärchen mit dem Galgo, das auf der Hinfahrt noch vor dem Terminal gewartet hat, fehlt heute. M. holt mich ab und parkt sogar auf demselben Parkplatz wie bei meiner Abreise. Ich frage mich, ob ich eigentlich noch dieselbe Person bin, die hier vor drei Wochen abgegeben wurde.

24 Stunden später habe ich zwar noch keine Antwort auf diese Frage, aber ein neues Attribut: Laut Ministerpräsident Daniel Günther sind die Kunstpreisträgerin Dörte Hansen und ich mit unserer jeweiligen Arbeit „wichtige Botschafterinnen“ des Landes Schleswig-Holstein. Mir ist etwas mulmig ob der Verantwortung, die hier mitschwingt, bin ich dafür überhaupt qualifiziert? Ich schreibe eigentlich nur in Limbus über Schleswig-Holstein (und selbst da sind es nur Neumünster und umliegenden Bahnstrecken) und ansonsten nur hier und da über Kiel, bin nicht hier aufgewachsen, verstehe kein Platt, habe nicht einmal ein Ankertattoo. Es ist wenig überraschend, dass es um das Ereignis Kunstpreisverleihung SH herum allgemein sehr viel heimatet. Während der Veranstaltung dauert es nicht lange, bis in einem Redebeitrag der Begriff „Heimatroman“ fällt und eigentlich die Romane von Dörte Hansen gemeint sind, aber weil es theoretisch passen könnte, wird Das Orakel von Bad Meisenfeld direkt unter unserem scheinbar gemeinsamen Thema subsummiert. Zumindest glaube ich das zu verstehen (oder verstanden zu haben, schließlich liegen das Ereignis und der Entstehungszeitraum dieses Textes recht weit auseinander). Im Vorfeld der Preisverleihung gibt es außerdem einen Artikel in den Kieler Nachrichten, indem ein Zitat von mir steht, das ich so nie abgegeben habe: „Es ist schön, von der Heimat geehrt zu werden.“ „Hast du das wirklich so gesagt?“, fragt J. entsetzt, nachdem sie den Artikel gelesen hat. Ich denke an das Zoom-Interview mit der netten KN-Kulturredakteurin, das ich noch von Finnland aus gegeben habe und krame in meinen Erinnerungen danach, ob ich dabei wirklich das H-Wort benutzt haben könnte. Was mir dieser Preis bedeuten würde, an die Frage kann ich mich noch genau erinnern, und auch, wie ich bei der Antwort deutlich zu weit ausgeholt habe: Dass ich zum Studieren unbedingt nach Schleswig-Holstein wollte, weil ich mir vorgestellt habe, dass neblige Strandspaziergänge und anschließend etwas schreiben perspektivisch ein stabiler Lebensentwurf für mich sein könnte (was ich verschwiegen habe: dass ich eigentlich nach einem Weg gesucht habe, mein Leben in einem Turbostaat-Album zu verbringen), und dass es mich sehr freut, so eine Auszeichnung von dem Zuhause zu bekommen, das ich mir selbst ausgesucht habe. Ich kann es der Redakteurin gar nicht verübeln, dass sie meine vermutlich etwas konfusen Ausführungen eben lokalzeitungstauglich zusammenkürzen musste. Tatsächlich finde ich, dass es sich in Schleswig-Holstein / Kiel sehr gut lebt, wahrscheinlich würde ich eher auswandern, als mich jemals in einer anderen Region in Deutschland niederzulassen, aber das H-Wort können reaktionäre Wirrköpfe wie Horst Seehofer gern bei ihren Gartenzwergen behalten. Immerhin fällt mir bei der Preisverleihung die korrekte Antwort auf die Frage aus dem Interview ein: Ich fühle mich sehr gut gefördert und bin dafür ganz aufrichtig dankbar. (Die KN machen daraus: „Ich fühle mich sehr gut gefeiert“ – spreche ich wirklich so undeutlich?)

8.

Am Abend des 29. September bekomme ich nicht nur das erste Schneefoto aus Mustarinda, sondern lese auch davon, dass Finnland am darauffolgenden Tag die Grenze nach Russland schließen wird, wegen Putins Teilmobilisierung und der Reservisten, die nun versuchen, das Land zu verlassen. Ich liege in einem Ferienhaus in Dänemark auf dem Sofa und schaue bei Google Maps nach, wie weit ich bis vor zehn Tagen noch von der russischen Grenze entfernt war. Nur etwa knapp 100 Kilometer, das ist wirklich nicht weit weg. Außerdem gibt es mehrere Gaslecks in der Nordstream 1 an der schwedischen Küste. In einem Artikel dazu finde ich eine Karte, auf der der Verlauf der Gaspipeline verzeichnet ist. Er deckt sich ziemlich genau mit der Route, die ich in der vergangenen Woche noch mit der Fähre gefahren bin, durch den finnischen Meerbusen vorbei an Gotland, Öland und Bornholm. Auf meinem Handy ist noch ein Foto von diesem Streckenverlauf, der hin und wieder auf dem Werbe- und Infokanal vom Finnlines-Starclub eingeblendet wurde und den ich von dem Fernseher in meiner Kabine abfotografiert habe. Ich denke darüber nach, wie es gewesen wäre, wäre ich wie geplant erst um diese Zeit wieder abgereist, wären die Züge voller gewesen, hätte die Fähre überhaupt auslaufen dürfen? Ich stelle auch fest, dass Abgeschiedenheit eine fluide Angelegenheit ist; egal wie weit der nächste Supermarkt entfernt ist, das Zeitgeschehen rückt trotzdem manchmal näher als erwartet, und ich habe es nun doch verpasst wegen anderer Termine. Ob das gut oder schlecht ist, kann ich nicht sagen. Ich verfolge es weiter durch mein Smartphone, höre den Regen auf dem Dach der Ferienhütte, sehne mich nach Schnee.

Finnen / Finken / Fichten

1.

An einem Tag werden der Hund und ich von einem finnischen Ehepaar überholt. Auf E-Bikes brettern sie den Forstweg herunter, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie tragen Gummistiefel zu ihren Waldarbeiterjacken und sehen vergnügt aus. 
„Terve!“, grüßen sie im Vorbeifahren. „Terve!“, antworte ich. Ein paar Minuten später kommen sie mir wieder entgegen.
„Moi!“, sage ich. Die etwas weniger förmliche Begrüßung, schließlich treffen wir uns jetzt schon zum zweiten Mal.
„Moi moi!“, grüßen sie und steigen von ihren Rädern. „Se on todella kaunis koira! Onko hän vielä nuori?“, fragt der Mann und schaut uns neugierig an. 
Häh? „Sorry, I don’t speak finnish!“ – Die Skandinavier können ja alle Englisch, haben sie gesagt. Das wird gar kein Problem! Der Mann lacht und lässt den Hund an seiner Hand schnuppern.
„Oletko venäläinen?“, fragt er, wieder auf finnisch.
„Förlåt, jag kan inte prata finnska“, versuche ich auf Schwedisch. („Ich spreche leider kein Finnisch“)
„Ah, Oletko ruotsalainen!“
Ruotsalainen, das verstehe ich. Aus Schweden.
Ich schüttele den Kopf.
„Saksalainen“, sage ich. Ein bisschen schlimm, dass das finnische Wort für „aus Deutschland“ klingt, als würde man „aus Sachsen“ sagen.
„Ai, he ovat vieraita Mustarindassa?“
Ah, irgendwas mit Mustarinda, so heißt der Ort, an dem ich hier wohne. So muss sich der Hund fühlen, wenn ihn jemand auf Menschensprache zuquatscht und dann doch ein Wort fällt, mit dem er etwas anfangen kann. Rausgehen/Futter/klar darfst du aufs Sofa. 
„Minä olen Jussi Hervonen. Tässä on vaimoni Päivi. Omistamme maatilan Kontiolla täällä lähellä.“ Er zeigt erst auf sich, dann auf seine Frau, dann irgendwo in die Ferne und spricht ganz langsam, als ob ich ihn dann besser verstehen könnte, aber ich habe längst aufgegeben. Aktueller Status: lächeln und nicken
„God bless you“, sagt seine Frau, ebenfalls lächelnd. Dann schwingen sie sich auf ihre E-Bikes und brausen davon.

2.

Ein Wegweiser schlägt mir drei Richtungen vor: 

Ukkohalla, 10,7 km
Komulanköngäs, 6,7 km
Ypykkälampi, 3,5 km

Hinter Ypykkälampi soll sich eine Wanderhütte an einem See verstecken. Y-P-Y-K-K-Ä-L-A-M-P-I. Ich versuche die Buchstabenkombination so lange festzuhalten, bis sie mit einer Bedeutung in mein Gedächtnis einziehen kann. Dann stolpere ich über eine Baumwurzel und scheuche einen Schwarm Buchfinken auf. Die kleinen Vögel zwitschern empört und verschwinden zwischen den Fichten, und Ypykkälampi flattert hinterher. Ich wollte später gern jemandem erzählen: Today I visited Ypykkälampi, aber jetzt reicht es nur noch für I went to that lake

Die finnische Sprache ist verwandt mit estnisch und ungarisch, wird vermutet, aber vielleicht stimmt es auch, dass ihre Schwester im Geiste die Sprache der Finken ist. Die Ähnlichkeit zwischen finnischen Wörtern und Vogelschwärmen jedenfalls ist frappierend: Beides völlig unübersichtlich und für Laien nicht zu verstehen – aber immerhin klingt alles nett und freundlich. 

3.

Die moderne Fichte trägt:
Sternmoos am Fuß
Bartflechte im Geäst
Baumpilze im Stamm und
Eines Tages auf der Rinde
Nur keine Krone
Seit dem letzten Winter.

Spooktober

Ich bin jedes Jahr überrascht, wenn sich das spätsommerliche Mittelmaß des Septembers im Oktober tatsächlich in echten Herbst verwandelt. Auf dem Weg zum Bäcker trage ich meinen neuen Wintermantel, für den es vor ein paar Tagen noch zu warm war, eine Jogginghose, die ein bisschen zu dünn ist, Socken mit Weihnachtsmuster und eine ausgeleierte Mütze auf meinen Haaren, die nach dem Aufstehen völlig unangetastet geblieben sind (und auch den übrigen Tag bleiben werden). Die Luft riecht nach Schnee, über den die Leute sagen, dass er nicht liegen bleiben wird. Die Schlange bei Bäcker Günther im Kronshagener Weg reicht bis in die Metzstraße und dort fast bis zum ersten Dönerladen am Dönerdreieck (was ein bisschen übertrieben ist, eigentlich sind es nur drei oder vier Leute, die noch in der Metzstraße stehen). Die Corona-Karte von der ZEIT, die ich hin und wieder anschaue, vermeldet, dass es in der vergangenen Woche 23.682 Neuinfektionen gab. In Kiel sind es zwar nur 10 (4,1 je 10.000 Einwohner*innen), aber damit das so bleibt, darf nur noch eine Person zur Zeit in den Bäckerladen, in dem es für mehr als zwei Personen ohnehin zu klaustrophobisch ist. Ich bin neidisch auf die anderen Jogginghosen in der Schlange (dickerer Stoff, rot-blau-weißes Muster mit Adidas-Streifen, die Bündchen an den Füßen nicht ausgeleiert).

Wenn ich zu diesem Bäcker gehe, komme ich normalerweise vom Westring und gehe auf dem Rückweg durch die Metzstraße zurück, um nicht zweimal denselben Weg zu laufen, aber der Fußgängerweg in der Straße ist so eng, dass ich heute ausnahmsweise über den Westring zurückgehe. In einem Fenster im Erdgeschoss sitzt eine Katze, die mich abschätzig mustert, als ich daran vorbeigehe. Sie ist dunkelgrau mit einer weißen Brust und hat Vampirzähne (vielleicht als Vorbereitung auf Halloween). Andere Fenster im Erdgeschoss sind mit Spitzengardinen verhangen, die vermutlich nur zum Fensterputzen aufgezogen werden. Zwischen den Vorhängen und den Fensterscheiben stehen nicht immer, aber oft Deko-Katzen, -Eulen, -Schweine und -Frösche auf der Fensterbank. Ich wundere mich jedes Mal darüber, dass die Gesichter dieser Keramiktiere zur Straße gewandt sind, aber heute fällt mir eine Antwort ein: Weil die Besitzer*innen dieser Dekorationsartikel sie aufgrund der immer zugezogenen Spitzengardinen nie zu Gesicht bekommen, schauen sie auf die Straße und nicht in die Wohnzimmer, in denen sie eigentlich stehen. Die Deko ist also für die Flaneusen, die im Vorbeigehen in die Fenster schielen. Eigentlich eine süße, fast selbstlose Geste – aber warum sind es immer nur Porzellantiere, deren kalte, leere Augen uns kalte Schauer über den Rücken jagen?

Panic! on the Sidewalk

Es ist plötzlich so warm geworden, was mich eigentlich nicht verwundern sollte, weil es ja schon fast Juni ist, also fast der Monat, in dem der längste Tag im Jahr ist, aber ich bin trotzdem überrascht, dass es in einer handelsüblichen Jeans zumindest in der Sonne irgendwie zu warm ist. Vielleicht bin ich auch überrascht darüber, dass sich nach den vergangenen 3-13°C warmen heiter bis wolkigen Tagen voller Zahlen und Kurven und Interviews und Podcasts und Zuhausebleiben doch irgendwas ändert, das ich mit meinem eigenen Körper nachprüfen kann (und auch gern tun will). Woran ich mich nie wieder gewöhnen können werde: Dass meine Abneigung gegen allzu viel Kontakt und Nähe zu zufälligen Menschen plötzlich doch nicht mehr salonfähig ist. Ich spaziere heute durch eine Straße, in der einige Geschäfte offenbar vergessen wurden. Das ehemalige Büro eines Kammerjägers trägt seit vielen Jahren eine riesige Nahaufnahme von einer Wespe, eine Rattenfamilie und die Bäuche einiger Kakerlaken als Fensterschmuck, aber Spuren menschlicher Benutzung kann ich nie erkennen, wenn ich daran vorbeilaufe. Wie soll ich die Bilder auf dem Fensterglas interpretieren: „Diese Schädlinge entfernen wir für Sie!“ oder „Wir waren so lange nicht hier, dass diese Tierarten nun überhand genommen haben!“? Deutlich mulmiger wird mir, als ich an einem Antiquitätenladen vorbeilaufe, vor dem ein Transporter halb auf dem Fußweg parkt, wo auch der Ladenbesitzer mit ausgestreckten Beinen auf einem Korbstuhl sitzt, ein weiterer Mann über einer Wühlkiste kniet und eine ältere Dame mit Gehstock einen gigantischen Wendekreis einschlägt, um über eine kleine Kellertreppe in das innere des Ladens zu gelangen. Keine Chance, hier mit genügend Sicherheitsabstand vorbeizukommen. Ich bleibe stehen und hoffe, dass mich niemand anspricht, oder anschnackt, denn die Leute vor dem Geschäft sehen aus wie Leute, die gern andere Leute anschnacken. Nach drei Monaten legitimer Distanzhaltung sind mir jegliche soziale Kompetenzen zum angeschnackt werden abhanden gekommen. Ich betrachte eine Milchkanne aus Kupfer und hoffe, dabei nicht gesehen zu werden, ich will nicht einmal sagen müssen, dass ich mich nur umschaue, ich schaue mich ja eigentlich auch gar nicht um, ich warte nur darauf, dass ich weitergehen kann, ohne hier irgendjemandem zu nahe zu kommen. Brauche ich so eine Kanne? Na ja, ich habe eh kein Geld dabei. Als die Dame mit dem Gehstock auf der ersten Treppenstufe angekommen ist, nehme ich meinen Mut zusammen und schlängele mich an dem Ladenbesitzer und dem Kistentaucher vorbei. „Immer langsam!“, sagt einer von den beiden zu der Dame. Ich glaube, mich haben sie gar nicht gesehen.

Kartographieren (2)

[12.4.2020]

Ich habe den fast perfekten Platz heute wieder besucht, weil er sich ja nicht von selbst kartographieren wird. Folgendes habe ich gefunden:
– Einen Falken, jedenfalls glaube ich, dass es einer war. Ein etwa taubengroßer, schlanker Vogel mit trapezförmigem Bürzel, der länger am Himmel glitt, um dann im Sturzflug auf der Wiese zu landen.
– Ein Mensch in meinem Alter, der mich nach dem Weg nach Kronshagen gefragt hat (mein erstes Gespräch mit einem Fremden seit vier Wochen)
– Vermutlich dasselbe Blässhühnerpaar von neulich, ziemlich busy in ihrem Vorgarten
– Ein Menschenpaar mit einer Tochter, die den Trampelpfad in Richtung Gehölz vorschlug und angab, die Anführerin zu sein
– Ungefähr sieben Kanadagänse
– Ein Rentnerpaar, das Fotos von den ungefähr sieben Kanadagänsen machte
– Eine sehr kleine Drohne, deren Pilot*in ich nicht ausfindig machen konnte
– Zwei in Plastikfolie verpackte Blumentöpfe auf einer ehemaligen Kleingartenparzelle, die ich dort liegen ließ, obwohl ich zuhause durchaus welche gebrauchen könnte
– Ein Radlader und ein Baucontainer auf einer mit Sand aufgeschütteten Auffahrt (offenbar wird dort doch gebaut)

Der Platz

[Mittwoch, 8.4.2020]

Ich habe wenig geschrieben die letzten Tage, weil ich neuerdings gleichzeitig zu viel UND zu wenig Zeit habe. Außerdem bin ich auf der Suche nach Plätzen. Es ist nicht so, dass ich zuhause keinen hätte, aber die meisten Situationen wirken doch weniger aussichtslos, wenn die nächste Wand nicht in unmittelbarer Sichtweite ist. Vielleicht sind es auch nicht Plätze, die ich suche, sondern Perspektiven.

Mittlerweile habe ich einen Platz gefunden, der nah dran ist an der Perfektion. Es sind nur 15 Minuten Laufweite von zuhause, drei verschiedene fast gleich lange Routen führen dahin (von denen eine aber eigentlich nicht geht, weil sie der neue Ballermann für Leute ist, die trotz Lockdown in Bewegung bleiben wollen), und bei meinem ersten Besuch vor ein paar Tagen habe ich dort ein weißes Kaninchen gesehen (bin ihm allerdings nicht gefolgt). Ich will diesen Platz sorgfältig kartographieren, also sitze ich eine ganze Weile im Grünen, während der Fernauslöser meiner Kamera alle 5 Sekunden ein Foto macht. Der Freund einer Freundin sagt, dieser Ort erinnere ihn an den Ostblock. Ich kenne vom Ostblock nur das Tschechien, Polen und Lettland der Jetztzeit, aber wahrscheinlich stimmt es. Das Gelände, von dem ich spreche, war mal eine Kleingartenkolonie und ist theoretisch dem Kapitalismus anheim gefallen, aber in der Praxis ist seit dem Abriss der Gartenhütten nichts mehr passiert. Die Skyline ist hier flach, bis auf zwei Hochhäuser, das Ikea-Schild, einen Sendemast und die Flutlichtlampen des angrenzenden Sportplatzes. Es gibt zwei Teiche, die hier nie jemand angelegt hat. In der Mitte des kleineren Teiches wächst eine Insel aus Gestrüpp, auf der Blässhühner nisten. Blässhühner kommen vor allem an nährstoffreichen Gewässern vor, diese ehemalige Pfütze ist offenbar nun ein nährstoffreiches Gewässer. Es gibt auch ein Entenpaar, eine männliche Stockente und eine Ente, bei der ich mir nicht sicher bin, weil sie den flaschengrünen Kopf eines Stockerpels (Stockentenerpels?) hat, aber das Gefieder darunter hat zwar das Muster einer männlichen Federzeichnung, aber das Farbschema einer weiblichen Stockente. Außer den Blässhühnern und dem queeren Entenpaar gibt es hier nur einen Jogger, zwei, drei versprengte Paare, die in der Sonne liegen und eine französische Bulldogge, die zu einem der Paare gehört, es gibt hier eigentlich fast alles nur paarweise (vorbildlich!), bis auf die Kaninchen, die hier im Pulk unterwegs sind, aber einerseits sind die wahrscheinlich eh verwandt und andererseits gehört ihnen in Wahrheit diese Stadt.

Ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis zu viele Menschen diesen Platz kartographieren wollen. Die Frühlingssonne strahlt schon seit ein paar Tagen viel zu verführerisch für eine Welt im Lockdown und der Park ist ganz objektiv betrachtet zu voll, Menschen sonnen sich in aufgeklappten Kofferräumen und auf dem Wall vor Ikea. Wahrscheinlich treten sich hier schon bald die Sicherheitsabstände gegenseitig auf die Füße, aber in meinen wildesten Träumen sehe ich, wie sie das Bauprojekt, was hier eigentlich entstehen sollen, einfach canceln und wir dieses Stück Stadt auch offiziell wiederbekommen. Wobei, wie gesagt, eigentlich gehört es ja den Kaninchen.

Die Unstadt

[Mittwoch, 1.4.2020]

Das Schlimmste an der Krise ist eigentlich, dass es völlig egal ist, in welcher Stadt man lebt, weil es einfach keine Städte mehr gibt. Ich weiß natürlich nicht, ob es auf dem Dorf anders ist, und rein technisch stehen die Städte ja auch noch, und eigentlich ist Kiel sowieso ein Dorf und mein Viertel erst recht. M. macht sich normalerweise immer darüber lustig, dass ich ÜBERALL bekannte Menschen treffe, und ständig smalltalken muss, obwohl ich Smalltalk hasse, weil ich behaupte, so schlecht darin zu sein, dabei hasse ich es gar nicht so sehr, und so schlecht bin ich vielleicht auch gar nicht darin. Aber ich kann das jetzt nicht mehr sicher sagen, weil ich mich an meinen letzten Smalltalk schon gar nicht mehr erinnern kann. Es gibt nur noch digitalen Corona-Talk und das, wo ich durch laufe, wenn ich zur Arbeit, zum Einkaufen oder zum Spazieren gehe, das ist keine Stadt mehr, das sind nur noch Häuserblocks und leere Straßen und vielleicht ein altes Ehepaar, das mit Gesichtsschutzmaske in der Mercedes A-Klasse sitzt und fast die einzige Person auf der Straße über den Haufen fährt und manchmal läuft irgendwo ein Hund lang.

(Marginalien: Bei DM sind die Haarspülungen fast ausverkauft und die Innenstadt mit diesem für einen neuen Kanal vorgesehenen Riesenloch würde noch mehr nach Krisengebiet aussehen, wenn nicht die neuen Blumenbeete hinter dem Bauzaun wären.)

Samstag, 28.3.2020

Es gibt dieser Tage nur noch zwei Gemütszustände: Der, in dem ich hart dagegen arbeiten muss, mich von der Dramatik der aktuellen Lage vollständig auffressen zu lassen, und der, in dem ich mich über die Absurdität dieser neuen Gegenart einfach nur wundern kann. Eigentlich wollte ich jeden Tag in der letzten Woche das aufschreiben, was ich von meinem Fenster aus sehe, aber ich bin schon permanent mit schreiben beschäftigt (Bilanz der vergangenen Woche: Ein Förderantrag für eine Lesung, von der ich noch gar nicht weiß, ob sie stattfinden wird, ein begonnener fiktiver Briefwechsel mit einem Lesebühnenkumpel bzw. seinem Alter Ego und ca. eine Million Wörter in verschiedenen Chatprogrammen), sodass ich für das hier gar keine Zeit hatte. Oder ich hatte Angst vor dem, was ich vielleicht hätte aufschreiben müssen. Ich muss nun noch mehr darauf achten, meinen Koffeinkonsum so gering wie möglich zu halten. Normalerweise gibt es zwei Einheiten Koffein am Tag, von weniger bekomme ich Kopfschmerzen und von mehr werde ich größenwahnsinnig, aber aktuell ist die zweite und manchmal auch schon die erste Einheit eine flüssige Panikattacke. Nun gut. Bleiben wir also bei Kräutertee.

Das sonnige Wetter verwandelt meine Ostfensterbänke in Gewächshäuser, was mich zu einer meiner absurdesten neuen Alltagssorgen führt: ALLES wächst viel zu schnell und ich habe zwar genug Erde, aber nicht genug Blumentöpfe, um die Pilea-Ableger und die Tomaten- und Chili- Keimlinge einzupflanzen oder die Spuckpalmen umzutopfen. Die Wurzeln in den Anzuchttabs und dem Wasserglas mit den Ablegern sind jetzt schon viel zu lang, aber ich will nicht in den Baumarkt, ich weiß nicht einmal, ob der noch geöffnet ist, aber andererseits sehe ich aus meinem Schreibtischfenster so viele Menschen mit Holzlatten unter den Armen an der Kreuzung stehen. Vermutlich wäre bei Bauhaus also doch was zu holen, aber ich will eigentlich gar nicht da hin, so viele Heimwerker*innen, wie sie jetzt gerade auf der Straße unterwegs sind, muss da ja die Hölle los sein, oder verschenken sie irgendwo Kantholz auf der Straße? Ich werde es wohl nicht herausfinden.

Gestern bin ich zweimal durch den Park gelaufen, um den oben erwähnten Förderantrag loszuwerden. Am Kiosk gegenüber dem Hundefreilauf kann man jetzt telefonisch Pommes und Eis bestellen und wird per Lautsprecher ausgerufen, wenn die Bestellung abholbereit ist. Obwohl eigentlich höchstens 12 Grad in der Sonne waren, saßen Menschen mit Picknickdecken auf der Wiese, mit Kaffee in Thermoskannen und vorbildlichem Sicherheitsabstand. In dem leeren Planschbecken für Kinder tanzte ein älteres Paar Walzer ohne Musik (ich nehme an, dass sie zusammengehören). Heute war ich eine Runde mit dem Rad unterwegs und sah sogar Menschen, die auf Picknickdecken lagen (Der Rücken! Bei der Kälte!). Ich hoffe, dass es wenigstens ein bisschen so bleiben kann wie gestern und heute, aber morgen soll es schneien, auch wenn ich mir das kaum vorstellen kann.

Bock auf Autorität

[Sonntag, 22.3.2020]

Es ist gerade ein bisschen schwierig, die Dinge realistisch einzuschätzen. In der Zeit vor Corona wurde immer viel davon gesprochen, dass wir zu viel im Internet rumhängen und dass man doch mal das Smartphone weglegen und dass man RAUS gehen soll, in die RICHTIGE Welt, dahin, wo das ECHTE Leben stattfindet. Aber dieses Draußen, das angeblich richtige, echte Leben mit den echten Menschen, das ist zumindest für mich bis noch mindestens 4 Wochen lang gestrichen. Dabei kommuniziere ich genauso viel wie vorher, zumindest digital, allerdings jedoch nur mit meinen Freund*innen, mit denen ich in politischen und sozialen Fragen meistens mindestens ähnlicher Meinung bin. Ich weiß gar nicht, ob ich damit wirklich meine Perspektive vervollständigen oder mich einfach nur selbst geißeln wollte, jedenfalls habe ich in den letzten drei Tagen das Internet nicht nur genutzt, um das Corona-Update mit Christian Drosten zu hören, sondern versehentlich doch wieder in die sozialen Medien geschaut. Es gibt dort erschreckend viele Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen als eine staatlich angeordnete Ausgangssperre, und zwar möglichst rigoros und am besten sofort.

Ich war spazieren, gestern bin ich einmal zum Wasser gelaufen und heute war ich im Wald und es waren überall Menschen, aber sie waren alle allein oder zu zweit oder mit ihren Kindern unterwegs. Eine Frau wechselte bei meinem Anblick die Straßenseite (endlich wirke ich gefährlich genug!). Wie Planeten bewegten sie sich auf ihren Umlaufbahnen, die meist auf den äußeren Kanten der vorgegebenen Wege verliefen, es gab keinen Sicherheitsabstand, der nicht eingehalten wurde. Selten habe ich mich so sicher gefühlt, wenn ich allein in der Stadt unterwegs war. Ich beobachtete die anderen Spaziergänger*innen aus der Ferne und fragte mich, ob irgendwer von ihnen zu den Menschen gehörte, die nach einer Ausgangssperre lechzten, denn offensichtlich hielten sie sich ja ganz vorbildlich an die Regeln, die jetzt galten.

Vielleicht hatte ich auch Glück und habe nur einen besonders gut gelungenen Ausschnitt dieses echten, richtigen Lebens gesehen, in dem Menschen sich aus Solidarität ihren Mitmenschen an sinnvolle Regeln halten wollen und diese kompetent in ihre alltägliche Praxis integrieren. Vielleicht laufen nur zwei Kilometer weiter Leute rum, die sich zu zehnt zusammenrotten und gezielt andere Menschen anhusten. Wer weiß. Ich verstehe, dass es gerade völlig unmöglich ist, sich einen umfassenden Eindruck über die Dinge zu verschaffen. Was ich aber nicht verstehe: Wie kann man sich so sehr danach verzehren, endlich etwas verboten zu bekommen?

(Nur damit hier nicht der Verdacht aufkommt, dass ich die Corona-Pandemie verharmlosen wollen würde: Ich halte die allermeisten der bisher getroffenen Maßnahmen für richtig, aber dieser Autoritätsfetischismus, der überall durchblitzt, davon bekomme ich Albträume.)

Zeit schleifen

Seit heute haben wir März, aber ich bin eigentlich noch zu müde für den Frühling. Ich muss vor ein paar Tagen in Berlin in eine Zeitschleife getreten sein. Wahrscheinlich in einer U-Bahn-Station, wahrscheinlich in der U2, beziehungsweise dann, als ich aus der U2 ausgestiegen bin, weil ich dachte, ich wäre in die falsche Richtung unterwegs, dann tatsächlich eine Station in die falsche Richtung gefahren bin und noch einmal aussteigen musste, um dann endlich in die richtige Richtung zum Kino International zu fahren und NACKTE TIERE zu sehen – einer der Filme, von denen ich schon mit 17, 18 geträumt habe. Irgendwo dort muss sich die Zeitschleife um mein Bein gewickelt haben. Es ist sehr anstrengend, sich damit durch die Gegenwart zu bewegen. Und höllisch aufpassen musste ich, mich damit nicht in den E-Scootern zu verfangen, die in Berlin tatsächlich ziemlich unordentlich auf der Straße herumliegen (ich hatte bereits davon gehört, aber geglaubt, dass sich das nur wieder irgendwelche Leute aus dem Internet ausgedacht haben. Ich bin wieder einmal zu naiv für diese Welt). Mit meinen zwei Berliner Cousins, zu denen ich es immerhin geschafft habe, bin ich mir einig, dass wir von 2020 mehr erwartet hätten. Statt Jetpacks gibt es strombetriebene Roller, von denen niemand weiß, wo er*sie sie abstellen soll. Aber immerhin: ein modernes Mobilitätskonzept.

Mit dieser Zeitschleife um den Knöchel schleppte ich mich also durch die Berlinale und beobachtete im Vorbeiziehen die tragischen Fälle, die sich an bestimmten Zeitpunkten in der Vergangenheit verfangen hatten, dort mit Sicherheit nicht mehr wegkommen würden und sich bereits in obskure Fossilien verwandelt hatten. Eines davon saß seit Jahrzehnten im selben Kinosessel und erklärte vornehmlich jüngeren Kinobesucherinnen, die sich zufällig neben es setzten, wie bestimmte Filme funktionierten. Es hatte eine beeindruckende Treffsicherheit dabei, Filme auszuwählen, die die Sitznachbarin schon kannte, und trug gleichzeitig eine tollkühne Ignoranz gegenüber allem, was sie zu sagen hatte, in sich. Ein anderes verirrte sich in eine Vorstellung von THE ASSISTANT und stellte eine Frage, an deren Inhalt ich mich jetzt nicht mehr erinnere, die allerdings die Formulierung „Rape, wether it’s consensual or not“ enthielt. Ihre Zeit ist abgelaufen, und das völlig zurecht.

Das, was von meinem Zeitgefühl nach der Sache mit der Schleife noch vorhanden war, wurde am Dienstag auf einem offiziellen Empfang in Weißwein und später bei einem inoffiziellen in Gin mit Rosmarin (Gin-Ofenkartoffel, wie ich es nennen würde) aufgelöst. Spät nachts standen wir wieder auf dem Balkon gegenüber dem einen großen Kino, dessen Schriftzug längst ausgeschaltet war. So konnte ich nicht sehen, welche Buchstaben diesmal fehlten. Ich musste einen Nachtbus zu meiner Unterkunft nehmen. Es war schon fast drei, es war dunkel, es regnete, ich fiel beinahe über den E-Scooter, der kurz vor der Haustür halb in einem Gebüsch lag, aber ich fühlte mich sicher. Umso größer der Schock, als ich am nächsten Tag Twitter öffnete und etwas von der Notwendigkeit von Hamsterkäufen wegen Corona in Berlin las. Ich lebte seit Tagen nur im Kino, was hatte ich verpasst, war ich in Gefahr? Ich las lieber nicht weiter.

Mit der Zeitschleife um den Fuß stolperte ich kurz nach meinem Berlinale-Besuch ins genaue Gegenteil: Ein Metal-Konzert in Elmshorn. Kein Glamour, kein Roter Teppich, dafür ein einsturzgefährdetes Gebäude und sämtliche Wiedergänger meiner Jugend. Lange Haare, Kutten, schnelle Gitarren; ich trug schwere Stiefel und zu viel dunkle Schminke um die Augen und hoffte auf der Bühne auf ein positives Feedback von meinem 16-jährigen Ich, das allerdings mit einem Waschbären in Nietenjacke flirtete und ihn morgen bei SchülerVZ gruscheln würde. Morgen muss ich wieder zurück in die Gegenwart und mit ihrem Tempo Schritt halten. Ich weiß nur leider nicht, wie das funktionieren soll. Ich bin jetzt schon zu müde dafür.