1.11.2023

Keine großen Veränderungen im Gegensatz zu den vergangenen Tagen, wenn man einmal davon absieht, dass neuerdings die Abbildung einer Zitrone meinen linken Unterarm ziert. Und dass ich nun in dem Teil des Jahres angelangt bin, in dem ich mich in einem täglichen Wettlauf gegen die Dunkelheit wiederfinde. Sonnenuntergang um 16:45 Uhr, morgen schon zwei Minuten früher. Das Zeitfenster für Erledigungen bei Tageslicht nach der Lohnarbeit schrumpft rapide. Die Tage werden in den folgenden Wochen so aussehen: Sonnenaufgang – Hunderunde – Existenz als unspezifische Teilzeitangestellte – Hunderunde – Sonnenuntergang – Schriftstellerei bei Nacht. Mit großer Sicherheit werde ich kein einziges Wort bei Tageslicht schreiben. Als Kind wollte ich immer gern ein Vampir sein, später als Erwachsene dann lieber Schriftstellerin mit Hund. Diesen Herbst/Winter bin ich voraussichtlich beides. 

26.10.2023

Ich versuche es immer mal wieder, so auch heute: jeden Tag schreiben, egal was, Hauptsache etwas anderes als E-Mails oder Einkaufslisten. Aktuell bin ich sehr beschäftigt mit Warten. Aufs Wochenende, auf eine weniger komplexe (und damit meine ich: bestürzende) Weltlage, auf lektorierte Romanseiten. Der Umstand, ständig nasse, beschlagene Brillengläser und kalte Finger zu haben, erfüllt mich mehr und mehr mit der Überzeugung, dass mir nur die diffusen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr Linderung verschaffen können. Hoffentlich schaffe ich es, dann auch konsequent die Füße hochzulegen. Heute hätte ich mich zum Beispiel sicherlich mal entspannen können, stattdessen aber versucht, den Wohnzimmerteppich mit zehn Jahre altem Teppichreiniger zu schrubben. Ein aussichtsloses Unterfangen, aber wenn ich es mir so überlege, steht das Wort „Unterfangen“ grundsätzlich mit „aussichtslos“ zusammen. Ich bin gespannt, mit welchen aussichtslosen Unterfangen ich die Wartezeit (auf einen beliebigen Punkt in der Zukunft) noch so überbrücken werde.

Wellengang

Wie lange hat es geregnet, zehn Wochen am Stück, mindestens? Die brütend heißen Tage im Juni fühlen sich an wie eine Erinnerung an den Sommer vor ein paar Jahren (immer der, der zu seinem Zeitpunkt der wärmste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen war). Nachrichten von Waldbränden lese ich durch beschlagene Brillengläser und wische mit Badewannenfingern weiter zur nächsten Katastrophe. Jedes Mal, wenn ich nass werde, denke ich, dass ich beim nächsten Mal nass werden wirklich ausraste, aber so viel kann ja kein Mensch ausrasten, und außerdem bin ich die allermeiste Zeit damit beschäftigt, den Hund abzutrocknen und mich aus an den Beinen klebenden nassen Hosen zu schälen. Als es am Donnerstag gegen zehn Uhr anfängt zu regnen und den Rest des Tages nicht mehr aufhört, beginne ich mich mit der offensichtlichen Tatsache, dass die Klimakrise für Norddeutschland einen ewigen Herbst bedeutet, einfach abzufinden. Tage in Nasser-Aschenbecher-Grau und Grünkohlgrün, ich werde eine bessere Regenjacke brauchen.

Umso überraschter bin ich, als sich jenseits des Kanals die Wolkendecke einfach auflöst. Zum Glück habe ich Badesachen dabei. Ungefähr an diesem Tag vor einem Jahr war ich an der Steilküste an der perfekten Badestelle baden: Keine Steine, keine Sandbank, einfach in die Ostsee waten, an kritischen Stellen kurz die Zähne zusammenbeißen, nach ein paar Metern ist es schon tief genug zum schwimmen. Die Konstellation der großen, unbeweglichen Steine, die dort am Strand langen, habe ich mir genau eingeprägt, damit ich wieder kommen kann. Und ich finde sie heute tatsächlich wieder, obwohl sich die Steilküste seit meinem letzten Besuch im Mai verändert hat. The coast is always changing, alles wie immer, nur dass der Strand viel schmaler ist als sonst. Ist etwas von der Steilküste abgesackt oder haben wir einfach nur Flut? Der Wellengang jedenfalls ist für Ostsee-Verhältnisse beeindruckend. Windig ist es eigentlich nicht. Also tatsächlich Flut? Immerhin ist es so einfacher, nass zu werden, es klappt sogar ohne Zähne zusammenbeißen an kritischen Stellen. Unter der Wasseroberfläche ist alles anders als im letzten Jahr: Spitze Steine an den Füßen, Seegras, Algen, wahrscheinlich sogar Krebse, die Jagd auf die Zehen der seltenen Badegäste machen. Ich denke, dass ich nicht zu weit hinaus schwimmen sollte, wegen der Strömung, und der Wellen, und weil es doch ganz schön kalt ist. Vielleicht schaffe ich es, meine Haare nicht nass werden zu lassen. Klappt allerdings nicht: Als ich mich umdrehe, um über die gnadenlosen Steine wieder zurück an den Strand zu waten, klatscht eine Welle über meine Frisur.

Rokycany Dreaming

Ein letztes Mal mit České dráhy zum Fluff Fest in Tschechien. Schon zwei Wochen vorher regelmäßig den Wetterbericht für Rokycany gecheckt und etwas besorgt gewesen wegen mittelschwerer Waldbrandgefahr. Zur Sicherheit nehme ich eine Regenfront aus Kiel mit und hefte sie an den Zug, was überraschend gut klappt. Was unterwegs nicht so gut funktioniert: 20 Franzbrötchen auf einmal am Hamburger Hauptbahnhof kaufen („Abgabe nur in haushaltsüblichen Mengen“). Also gehe ich zweimal und male mir vor der zweiten Runde einen Schnurrbart auf. Die Tarnung fliegt nicht auf.

Am Bahnhof in Plzen kaufe ich Brotchips und eine Limo am Automaten, bezahle mit Kreditkarte und komme mir dabei sehr modern und zeitgemäß vor. In Rokycany verpasse ich A Place to Bury Strangers und die Öffnungszeiten interessanter Geschäfte. Am Festival-Samstag ist Vollmond, aber die übermäßige Präsenz von Wühlmäusen auf dem Festivalgelände hängt damit nicht zusammen. Wahrscheinlich ist es die Kombination aus wochenlanger Trockenheit und anhaltendem Regen, die an manchen Stellen ihre Tunnelsysteme freilegt. Die Areale um die zerstörten Mäusetunnel werden mit Flatterband abgesperrt. Sonntag früh sitzt eine Maus in unserem Vorzelt. Zeit zu gehen, sagen ihre dunklen Knopfaugen. Ich nicke und verspreche, ihr das Feld für immer zu überlassen. 

„When we look at it from today’s perspective we think that (…) building a festival on a bare field is unnecessary splurge, and with the climate crisis in mind things can be done in a more sustainable way“, schreiben die Veranstalter*innen in ihrer Begründung, warum es dieses Jahr „The Last Fluff Fest Ever“ ist. Nur wenige Tage später verhängt dieses eine viel zu große Festival bei mir um die Ecke einen Anreisestopp für PKWs, weil die Campingwiesen durch die Kombination aus wochenlanger Trockenheit und jetzt anhaltendem Regen nicht befahrbar sind. Ich habe immer gedacht, dass ich vielleicht irgendwann aufhöre, auf Festivals zu fahren, weil ich alt werde und Rückenprobleme bekomme oder keine Lust mehr auf Abenteuer habe (niemals!). Jetzt sieht es eher danach aus, als würde die Klimakrise das verunmöglichen. Einfach nur regulär zu altern wäre mir in diesem Fall deutlich lieber gewesen. 

Geisterstunden

09:05 Uhr im Park, ein wenig später als üblich, weil ich nachts zwischen 3 und 5 Uhr wach lag und ein bisschen Schlaf hinten ran hängen musste. Es sind fast keine Hunde mehr im Park, weil die meisten von ihnen wohl Menschen gehören, die geregelte Arbeitszeiten haben oder generell früher dran sind als ich. Stattdessen begegnen uns ausschließlich junge Männer mit langen, dünnen Beinen, die wie verzagte, Flash-animierte Störche über die matschigen Wege staksen. Ich beobachte sie aus der Ferne und muss an Salad Fingers denken. Einer von ihnen läuft in ausladenden Sinuskurven über die vom Regen, Schnee und Hagel der letzten Wochen aufgeweichten Wiesen. Er hat nichts dabei, keinen Hund, kein Kind, keine Tasche. Auch Kniescheiben scheinen ihm zu fehlen (die immerhin hat Salad Fingers ihm voraus). Ich hege manchmal einen Verdacht, den ich nur selten jemandem anvertraue: Dass der Park zwischen 8 und 11 Uhr morgens eine Art Zwischenwelt ist, die in diesem Zeitraum nur von Wesen betreten werden kann, die sich gerade um jemanden oder etwas kümmern (z.B. um Kinder, Hunde oder Pflanzen) – und von Geistern, die es zeitlebens verpasst haben, einen bestimmten Auftrag zu erledigen und nun für immer auf eine neue Gelegenheit warten müssen, das Versäumte nachzuholen.

Stress in hässlichen Hosen

Jetzt bin ich also an dem Punkt, an dem ich nie sein wollte, weil z.B. Christian Kracht den seit 1995 besetzt hält: Mich plagt das Bedürfnis, mich abschätzig in Textform über die Kleidung von Menschen, die ich nicht kenne, zu äußern. Schon länger beobachte ich in mir eine Gefühlsregung, die mir nicht gut gefällt. Ich lebe im Dreieck zwischen einem Park, einer weiterführenden Schule und einer Partylocation, d.h. ich sehe eigentlich zu jeder Tag- und Nachtzeit Jugendliche auf der Straße. In letzter Zeit denke ich dabei häufig folgenden Gedanken: DIE JUGENDLICHEN TRAGEN HEUTZUTAGE ABER WIRKLICH HÄSSLICHE HOSEN. Mein nächster Geburtstag wird der 34. sein, das ist eigentlich kein Alter, zumindest ja unter 35 (das magische Alter, in dem wir im Literaturbetrieb zu Ancient Vampires transformieren). Wenn ich jetzt schon an dem Punkt bin, an dem ich kein Verständnis mehr für die modischen Experimente jüngerer Menschen (oder ihre Rebellion gegen erträgliche Formen) aufbringen kann, ist das wohl ein klarer Fall von Frühvergreisung.

Ich bin mittags mit dem Hund im Park, um mit ihm entspanntes Herumstehen zu üben, als ich im Augenwinkel eine Wolke aus ausgebeultem Jeanshosenstoff bemerke. Oh je, Jugendliche, denke ich, sie sind irgendwie laut. Wie soll ich denn hier entspannt herumstehen? Bevor ich es schaffe, mit dem Hund das Weite zu suchen, höre ich JACKE AUSZIEHEN, UND ZWAR SOFORT. Ich drehe mich um, obwohl ich mir sicher bin, dass diese harschen Worte nicht mir gelten. Unter die Jugendlichen haben sich zwei ältere Typen in Windbreakern, weißen Aldi-Sneakern und ja, ebenfalls hellen, völlig unförmigen Jeans gemischt, die ihre Arme auf eine Art vom Körper abstehen haben, die doch sehr aggressiv auf mich wirkt. Oh je, denke ich, jetzt stressen hier irgendwelche älteren Rave-Proleten aus den Neunzigern Jugendliche im Park an, was soll das?, und bleibe stehen, falls wir uns einmischen oder Hilfe holen müssen, der Hund und ich. Widerwillig reicht ein schlaksiger Junge mit Mittelscheitel einem der dubiosen Typen seine Daunenjacke (ebenfalls hässlich, wenn ihr mich fragt) und hebt die Arme, um sich von dem anderen abtasten zu lassen. Als dieser sich beim Abtasten ein wenig nach vorne beugen muss, sehe ich unter seinem beigen Windbreaker eine Pistole hervorblitzen. Oh je, denke ich, mit den Nerven bereits völlig am Ende, diese Typen sind also auch noch bewaffnet. Wahrscheinlich sollte ich irgendjemanden zur Hilfe rufen. HALT STILL JETZT, höre ich noch, und irgendwas mit DROGEN GEFUNDEN.

Tragen Zivilpolizisten eigentlich Waffen?, schreibe ich an M., während ich das Szenario beobachte und komme mir dabei unheimlich naiv vor. Ein langer Typ mit rotem Windbreaker steht mit seinem Rennrad einige Meter entfernt und behält die Situation ebenfalls im Auge. Naja, wenigstens gibt es noch mehr Zeugen, falls es zu Polizeigewalt kommt, denke ich. Einer der Jugendlichen versucht zu entkommen. HÖR JETZT AUF MIT DEM SCHEISS motzt der Typ auf dem Rennrad, und der Jugendliche kehrt zurück auf seinen Platz. Ach so, noch ein Zivilbulle. IHR KOMMT JETZT MIT AUF DIE WACHE, LOS ABMARSCH UND ZWAR GEORDNET, und dann ziehen sie von dannen. Ich versuche, noch ein Foto zu machen, so ganz unauffällig mit der Selfiekamera über die Schulter. Aus ein paar Metern Entfernung sind sie kaum noch voneinander zu unterscheiden, die Polizisten und die Jugendlichen.

Gescheiterte Magie

Es ist schon ein gefühltes halbes Leben her, dass ich mich einmal an einem Ritual für die Rauhnächte versucht habe: Am 25. Dezember 2019 habe ich dreizehn Wünsche auf kleine Zettel geschrieben, in ein kleines Gefäß geworfen und wollte fortan jeden Tag einen dieser Zettel ungelesen verbrennen. Um die Erfüllung des Wunsches, der am 6. Januar noch übrig gewesen wäre, hätte ich mich im Jahr 2020 höchstpersönlich kümmern müssen (ich weiß nicht mehr, ob die anderen zwölf Wünsche woanders Chefsache geworden wären). Allerdings habe ich mir dann beim Verbrennen der kleinen Zettel wahrscheinlich jedes Mal die Fingerspitzen mit angezündet, oder alle Feuerzeuge waren leer, oder es ist etwas anderes dazwischen gekommen, jedenfalls habe ich das Ritual nie beendet. Die Zettel befanden sich für die kommenden drei Jahre im Bauch einer ganz winzigen Handtasche in Fledermausform, die ich nie als Handtasche benutzt habe, weil darin ja die Zettel mit den Wünschen waren, die ich nie verbrannt habe. Ihr seht: Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Heute habe ich mich dazu entschieden, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

In der fledermausförmigen Tasche befanden sich noch ganze sieben Zettel. Hier einmal die vollständige Liste mit Kommentar der Wünschenden:

Bessere Disziplin (die nicht weh tut): Ich glaube, diese Sorte Disziplin gibt es höchstens bei Instagram. Tatsächlich war ich die Wochen um den Jahreswechsel herum ziemlich diszipliniert und habe wirklich jeden Tag (außer Weihnachten und Silvester wegen aufwändiger Essenszubereitung) mein aktuelles Schreibprojekt beackert. Seitdem weiß ich: Disziplin tut weh, wenn du zuhause keinen vernünftigen Bürohocker hast.

Mehr Quality-Schreib-Time: Keine Ahnung, was ich mir darunter vorgestellt habe. Hätte ich mich im Jahr 2020 um diesen Wunsch kümmern müssen, wäre der konsequenteste Weg dahin gewesen, meinen Job zu kündigen (oh, wait!).

Endlich mal eine richtige Sache fertig schreiben: Naja, das habe ich immerhin 2021 gemacht (141 abgeschlossene Einträge auf dieser Website gucken böse).

Mich besser konzentrieren können: Dafür hätte ich wahrscheinlich mein Spacephone in der Förde versenken müssen. Stattdessen habe ich es zwischenzeitlich zumindest einmal ins Klo geworfen.

Mein Leben auf die Reihe kriegen: Das ganze Internet ist voll mit Memes, die mir hierzu einfallen.

Beschissenen Leuten aufs Maul geben: Ich wüsste gerne, wen ich damals konkret gemeint habe, aber die sollten sich natürlich nach wie vor in Acht nehmen!

Zum Nordpol fahren: Bis zum Nordpol habe ich es leider immer noch nicht geschafft, aber ich war in Finnland wirklich nah am Polarkreis.

Im Rückblick würde ich dieses Rauhnächte-Ritual also um folgenden Punkt ergänzen: Wenn du die Wünsche drei Jahre lang im Bauch einer Fledermaus liegen lässt, kümmerst du dich um die meisten Angelegenheiten automatisch. Ich hoffe nur, dass ich jetzt keinen Ärger mit der Wilden Jagd bekomme (wegen Ritualklitterung o. ä.), aber bis die wieder aktiv sind, hat sich diese Angelegenheit hier sicherlich längst versendet.

MAN MUSS STILLE AUCH MAL AUSHALTEN KÖNNEN

1.
Erster Kinobesuch des Jahres. Ich verstehe nicht so recht, worum es bei The Banshees of Inisherin gehen soll, aber vielleicht muss ich das auch gar nicht. Bei irischer Satzmelodie und Tristesse und Colin Farrells verzweifelten Augenbrauen bin ich an Bord, so oder so. Im Film gibt es außerdem einen schwarzen Zwergesel, der seinem Besitzer ständig ins Haus folgt und dort um Aufmerksamkeit und Snacks bettelt. Er erinnert mich an meinen Hund, nur dass er keine Socken stiehlt.

2.
Immer wieder bin ich überrascht, wie leichtfüßig mein Alltag bei Witcher 3 geworden ist. Sogar kleinere drachenartige Monster, über die ich mir in der Vergangenheit oft die Haare gerauft habe (These: Flugfähige Monster sind immer doppelt so schwer zu killen wie flugunfähige), bringe ich mittlerweile im Vorbeigehen zur Strecke. Nur ein Monster entwischt mir, ein Hound of the Wild Hunt, weil ich nebenbei ein paar Fässer auf wertvolle Gegenstände untersuche. QUEST FAILED, und das nur, weil ich das (in diesem Fall völlig unergiebige) Looten nicht sein lassen kann. 

3.
DIE NERVEN in Hamburg. Das Uebel & Gefährlich ist randvoll, sogar Bela B. ist da. Die meisten Leute im Publikum sind entweder zehn Jahre jünger oder fünfzehn Jahre älter als ich. Die älteren tragen Brillen mit dunklen Kunststoffgestellen und NIN- oder Converge-Shirts und schreiben ganz sicher Plattenkritiken. DIE NERVEN selbst scheinen von etwas besessen, das ihnen die katholische Kirche austreiben wollen würde. Mehr kann ich dazu nicht schreiben; die allseits bekannten Rockismen sind der Sache nicht angemessen und „eine der besten Live-Bands (oder vielleicht die beste) unserer Zeit“ wurde schon oft genug gesagt (u.a. weil es stimmt). Sie gehen äußerst flexibel mit der Länge ihres Materials um und halten eine bestimmte Viertel- oder Achtelpause über Minuten. Das Publikum wird ungeduldig. SPIELT ENDLICH WEITER, ruft jemand. Ich fürchte einen Britney-in-Vegas-Moment, ich will nicht, dass das Konzert jetzt schon endet. MAN MUSS STILLE AUCH MAL AUSHALTEN KÖNNEN, ruft jemand von hinten, ganz sicher einer der älteren Gäste, vielleicht mit Joy Division-Shirt. Ich glaube zu erkennen, wie Max Rieger nur ganz knapp nicht aus der Rolle fällt, dann spielen sie weiter, endlich. 

Herbst in der kaltgemäßigten Zone

1.

Während der Finnlandreise zuhause vergessen: Ein realistischer Maßstab für Dinge und Orte, die Menschen kennen könnten oder auch nicht. In Mustarinda, wo ich im September zu den Artists in Residence gehöre, sage ich nicht: „I am from Germany.“ Ich sage: „I am a writer and I live in Kiel.“ Niemand von meinen temporären Mitbewohner*innen hat jemals etwas von der Stadt gehört, in der ich lebe, außer der Malerin aus Helsinki, deren Partner zufällig auch aus Kiel kommt. Eine andere Finnin fragt mich, wie groß Kiel ist. „Half the size of Helsinki“, schätze ich. Helsinki hat etwas über eine halbe Million Einwohner*innen und eine Metro mit roten Plastiksitzen. Was ich auch lerne: In Finnland leben genauso viele Menschen wie in Dänemark. Auf die Region Kainuu umgerechnet bedeutet das: Ich begegne auf 16 Tage verteilt insgesamt 8 Menschen zufällig im Wald.

2.

Das ist ja ziemlich nah an Russland, sagen einige Leute, denen ich von meinen Reiseplänen für den Herbst erzähle und lassen durchblicken, dass sie diesem Umstand einiges Gefahrenpotenzial beimessen. Als ich hundefreundliche Orte zwischen Helsinki und Hyrynsalmi recherchiere, lerne ich, dass die Wölfe in Finnlands Osten gelegentlich mit Hunden aneinandergeraten, was für die Hunde meist nicht gut ausgeht. Viele Leute in den etwas dünner besiedelten Gebieten Finnlands haben Hunde, denen man die Verwandtschaft mit Wölfen noch ansieht. Spitze Ohren, dichtes Fell, Nässe und Kälte sind ihnen völlig egal. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein dünn befellter, schlappohriger Hund und ich als Snack für finnische Wölfe enden?

Aus dem Fenster meines finnischen Schreibzimmers glaube ich einen Wolf zu sehen, der sich auf den zweiten Blick als schwarz-weißer, herrenloser Husky mit Peilsender herausstellt. Im Wald treffe ich einen schwarzen Wolfsspitz in gelber Sicherheitsweste, der sich von seiner Pilze sammelnden Besitzerin abgeseilt hat. Ansonsten keine Wölfe und auch keine Bären. Nur ein Mann in hohen Gummistiefeln, der einen Eimer bei sich trägt, auf russisch, polnisch oder ukrainisch telefoniert und danach wieder im Dickicht verschwindet.

3.

Die nächste Straßenlaterne ist von Mustarinda vermutlich genauso weit entfernt wie das nächste Dorf mit Supermarkt: Etwa 25 Kilometer. Auf der letzten Hunderunde vor dem Zubettgehen, die in den allermeisten Fällen nach Einbruch der Dunkelheit stattfindet, höre ich mein Blut in den Ohren rauschen, jedes Knistern im Gebüsch eine neue Portion Adrenalin für die Nervenbahnen. Als sich in der einzigen wolkenlosen Nacht etwas seltsames Grünes am Horizont zusammenbraut, falle ich vor Schreck nur deshalb nicht in Ohnmacht, weil mir rechtzeitig auffällt, dass das Polarlichter sein müssen.

4.

Die Luft zwischen den Fichten riecht schon am 4. September nach Schnee. Ich bekomme akute Sehnsucht nach Winter und versuche mir die 1,40 Meter hohe Schneedecke vorzustellen, die laut einer Infotafel im April 2020 den Boden hier bedeckt habe. Nyskä, mit der wir eine Tour durch den 10.000 Jahre alten Wald hinter dem Haus machen, erzählt uns, dass viele Kiefern und Fichten diese Schneedecke seit ein paar Jahren nicht mehr tragen können und ihnen deshalb scharenweise die Kronen abknicken. Es liegt am Klimawandel, sagt sie, und dass ihr das Sorgen bereitet.

5.

In Mustarinda bin ich die einzige Person, die keine richtige Funktionskleidung dabei hat. Nach einem längeren Spaziergang durch nasse Blaubeersträucher brauchen meine Dr. Martens fünf Tage, bis sie wieder richtig trocken sind (obwohl sie mit Zeitung ausgestopft auf der Heizung liegen). Ich kann nicht sagen, ob ich grundsätzlich zu naiv oder zu eitel bin, um meine Kleidung an Umwelt und Wetterlage anzupassen. Glücklicherweise gibt es eine große Auswahl an Leihgummistiefeln, dank derer ich die übrige Zeit in Finnland trockenen Fußes durch den Wald komme. Seit ich als Teenager Fräulein Smillas Gespür für Schnee gelesen habe, sehne ich mich nach der ruhigen Kälte borealer Landschaften. Auf dem Breitengrad meiner Träume muss ich nun feststellen, dass ich für ein Leben außerhalb mittelgroßer Städte in gemäßigten Klimazonen nur bedingt geeignet bin.

Trotzdem laufe ich jeden Tag stundenlang wie im Rausch durch den Wald: Auf den Steinen wachsen immer mehr extraterrestrisch anmutende Moosarten, sogar die Blätter der Bodendecker färben sich rot, tote Bäume verwandeln sich in Waldgeister, die über meine endlosen Streifzüge durch den Wald wachen. Ich vergesse die Zeit, verliere mich im Farn und finde trotzdem immer wieder zurück nach Hause.

6.

Als am Abend des 29. Septembers der erste Schnee in Mustarinda fällt, bin ich schon längst nicht mehr vor Ort. Ich trete meine Heimreise am 19. September an, zehn Tage früher als ursprünglich geplant, weil ich das Luxusproblem habe, am 22. September einen Kunstpreis zu bekommen, den ich besser persönlich abholen sollte. Wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln reist und zwischendurch noch die eine oder andere Hunderunde einplanen muss, dauert es zwei bis drei Tage, die knapp 2000 Kilometer zwischen Mustarinda und Kiel zurückzulegen. Knapp 30 Stunden der Reisezeit verbringe ich auf der Fähre von Helsinki nach Travemünde. Die meiste Zeit davon liege ich auf dem Bett in meiner Kabine, von der Ostsee sanft in einen leichten Dämmerschlaf geschaukelt, schaue abwechselnd finnisches und deutsches Fernsehen, ungefähr zehn Folgen Pawn Stars und später hauptsächlich Nachrichten, als mir auf diversen Kanälen immer wieder ein und dasselbe Bild von Putin begegnet: Der Blick in die Kamera gerichtet, ein Arm flach auf dem Tisch, einer aufgestützt und angewinkelt, als würde er gleich durch den Bildschirm springen wollen. Die finnischen Untertitel seiner Fernsehansprache sagen mir selbstredend nichts. Erst im ARD Morgenmagazin lerne ich den merkwürdigen Begriff „Teilmobilisierung“. Die allzu vielen Buchstaben des finnischen Äquivalents finden gar nicht erst den Weg durch meine Stirnfalten.

7.

Auf dem Parkplatz vor dem Fährterminal in Travemünde sieht es am 21. September gegen 22 Uhr genauso aus wie vor drei Wochen um dieselbe Zeit: Trotz Straßenlaternen ziemlich dunkel. Nur das Pärchen mit dem Galgo, das auf der Hinfahrt noch vor dem Terminal gewartet hat, fehlt heute. M. holt mich ab und parkt sogar auf demselben Parkplatz wie bei meiner Abreise. Ich frage mich, ob ich eigentlich noch dieselbe Person bin, die hier vor drei Wochen abgegeben wurde.

24 Stunden später habe ich zwar noch keine Antwort auf diese Frage, aber ein neues Attribut: Laut Ministerpräsident Daniel Günther sind die Kunstpreisträgerin Dörte Hansen und ich mit unserer jeweiligen Arbeit „wichtige Botschafterinnen“ des Landes Schleswig-Holstein. Mir ist etwas mulmig ob der Verantwortung, die hier mitschwingt, bin ich dafür überhaupt qualifiziert? Ich schreibe eigentlich nur in Limbus über Schleswig-Holstein (und selbst da sind es nur Neumünster und umliegenden Bahnstrecken) und ansonsten nur hier und da über Kiel, bin nicht hier aufgewachsen, verstehe kein Platt, habe nicht einmal ein Ankertattoo. Es ist wenig überraschend, dass es um das Ereignis Kunstpreisverleihung SH herum allgemein sehr viel heimatet. Während der Veranstaltung dauert es nicht lange, bis in einem Redebeitrag der Begriff „Heimatroman“ fällt und eigentlich die Romane von Dörte Hansen gemeint sind, aber weil es theoretisch passen könnte, wird Das Orakel von Bad Meisenfeld direkt unter unserem scheinbar gemeinsamen Thema subsummiert. Zumindest glaube ich das zu verstehen (oder verstanden zu haben, schließlich liegen das Ereignis und der Entstehungszeitraum dieses Textes recht weit auseinander). Im Vorfeld der Preisverleihung gibt es außerdem einen Artikel in den Kieler Nachrichten, indem ein Zitat von mir steht, das ich so nie abgegeben habe: „Es ist schön, von der Heimat geehrt zu werden.“ „Hast du das wirklich so gesagt?“, fragt J. entsetzt, nachdem sie den Artikel gelesen hat. Ich denke an das Zoom-Interview mit der netten KN-Kulturredakteurin, das ich noch von Finnland aus gegeben habe und krame in meinen Erinnerungen danach, ob ich dabei wirklich das H-Wort benutzt haben könnte. Was mir dieser Preis bedeuten würde, an die Frage kann ich mich noch genau erinnern, und auch, wie ich bei der Antwort deutlich zu weit ausgeholt habe: Dass ich zum Studieren unbedingt nach Schleswig-Holstein wollte, weil ich mir vorgestellt habe, dass neblige Strandspaziergänge und anschließend etwas schreiben perspektivisch ein stabiler Lebensentwurf für mich sein könnte (was ich verschwiegen habe: dass ich eigentlich nach einem Weg gesucht habe, mein Leben in einem Turbostaat-Album zu verbringen), und dass es mich sehr freut, so eine Auszeichnung von dem Zuhause zu bekommen, das ich mir selbst ausgesucht habe. Ich kann es der Redakteurin gar nicht verübeln, dass sie meine vermutlich etwas konfusen Ausführungen eben lokalzeitungstauglich zusammenkürzen musste. Tatsächlich finde ich, dass es sich in Schleswig-Holstein / Kiel sehr gut lebt, wahrscheinlich würde ich eher auswandern, als mich jemals in einer anderen Region in Deutschland niederzulassen, aber das H-Wort können reaktionäre Wirrköpfe wie Horst Seehofer gern bei ihren Gartenzwergen behalten. Immerhin fällt mir bei der Preisverleihung die korrekte Antwort auf die Frage aus dem Interview ein: Ich fühle mich sehr gut gefördert und bin dafür ganz aufrichtig dankbar. (Die KN machen daraus: „Ich fühle mich sehr gut gefeiert“ – spreche ich wirklich so undeutlich?)

8.

Am Abend des 29. September bekomme ich nicht nur das erste Schneefoto aus Mustarinda, sondern lese auch davon, dass Finnland am darauffolgenden Tag die Grenze nach Russland schließen wird, wegen Putins Teilmobilisierung und der Reservisten, die nun versuchen, das Land zu verlassen. Ich liege in einem Ferienhaus in Dänemark auf dem Sofa und schaue bei Google Maps nach, wie weit ich bis vor zehn Tagen noch von der russischen Grenze entfernt war. Nur etwa knapp 100 Kilometer, das ist wirklich nicht weit weg. Außerdem gibt es mehrere Gaslecks in der Nordstream 1 an der schwedischen Küste. In einem Artikel dazu finde ich eine Karte, auf der der Verlauf der Gaspipeline verzeichnet ist. Er deckt sich ziemlich genau mit der Route, die ich in der vergangenen Woche noch mit der Fähre gefahren bin, durch den finnischen Meerbusen vorbei an Gotland, Öland und Bornholm. Auf meinem Handy ist noch ein Foto von diesem Streckenverlauf, der hin und wieder auf dem Werbe- und Infokanal vom Finnlines-Starclub eingeblendet wurde und den ich von dem Fernseher in meiner Kabine abfotografiert habe. Ich denke darüber nach, wie es gewesen wäre, wäre ich wie geplant erst um diese Zeit wieder abgereist, wären die Züge voller gewesen, hätte die Fähre überhaupt auslaufen dürfen? Ich stelle auch fest, dass Abgeschiedenheit eine fluide Angelegenheit ist; egal wie weit der nächste Supermarkt entfernt ist, das Zeitgeschehen rückt trotzdem manchmal näher als erwartet, und ich habe es nun doch verpasst wegen anderer Termine. Ob das gut oder schlecht ist, kann ich nicht sagen. Ich verfolge es weiter durch mein Smartphone, höre den Regen auf dem Dach der Ferienhütte, sehne mich nach Schnee.

Finnen / Finken / Fichten

1.

An einem Tag werden der Hund und ich von einem finnischen Ehepaar überholt. Auf E-Bikes brettern sie den Forstweg herunter, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie tragen Gummistiefel zu ihren Waldarbeiterjacken und sehen vergnügt aus. 
„Terve!“, grüßen sie im Vorbeifahren. „Terve!“, antworte ich. Ein paar Minuten später kommen sie mir wieder entgegen.
„Moi!“, sage ich. Die etwas weniger förmliche Begrüßung, schließlich treffen wir uns jetzt schon zum zweiten Mal.
„Moi moi!“, grüßen sie und steigen von ihren Rädern. „Se on todella kaunis koira! Onko hän vielä nuori?“, fragt der Mann und schaut uns neugierig an. 
Häh? „Sorry, I don’t speak finnish!“ – Die Skandinavier können ja alle Englisch, haben sie gesagt. Das wird gar kein Problem! Der Mann lacht und lässt den Hund an seiner Hand schnuppern.
„Oletko venäläinen?“, fragt er, wieder auf finnisch.
„Förlåt, jag kan inte prata finnska“, versuche ich auf Schwedisch. („Ich spreche leider kein Finnisch“)
„Ah, Oletko ruotsalainen!“
Ruotsalainen, das verstehe ich. Aus Schweden.
Ich schüttele den Kopf.
„Saksalainen“, sage ich. Ein bisschen schlimm, dass das finnische Wort für „aus Deutschland“ klingt, als würde man „aus Sachsen“ sagen.
„Ai, he ovat vieraita Mustarindassa?“
Ah, irgendwas mit Mustarinda, so heißt der Ort, an dem ich hier wohne. So muss sich der Hund fühlen, wenn ihn jemand auf Menschensprache zuquatscht und dann doch ein Wort fällt, mit dem er etwas anfangen kann. Rausgehen/Futter/klar darfst du aufs Sofa. 
„Minä olen Jussi Hervonen. Tässä on vaimoni Päivi. Omistamme maatilan Kontiolla täällä lähellä.“ Er zeigt erst auf sich, dann auf seine Frau, dann irgendwo in die Ferne und spricht ganz langsam, als ob ich ihn dann besser verstehen könnte, aber ich habe längst aufgegeben. Aktueller Status: lächeln und nicken
„God bless you“, sagt seine Frau, ebenfalls lächelnd. Dann schwingen sie sich auf ihre E-Bikes und brausen davon.

2.

Ein Wegweiser schlägt mir drei Richtungen vor: 

Ukkohalla, 10,7 km
Komulanköngäs, 6,7 km
Ypykkälampi, 3,5 km

Hinter Ypykkälampi soll sich eine Wanderhütte an einem See verstecken. Y-P-Y-K-K-Ä-L-A-M-P-I. Ich versuche die Buchstabenkombination so lange festzuhalten, bis sie mit einer Bedeutung in mein Gedächtnis einziehen kann. Dann stolpere ich über eine Baumwurzel und scheuche einen Schwarm Buchfinken auf. Die kleinen Vögel zwitschern empört und verschwinden zwischen den Fichten, und Ypykkälampi flattert hinterher. Ich wollte später gern jemandem erzählen: Today I visited Ypykkälampi, aber jetzt reicht es nur noch für I went to that lake

Die finnische Sprache ist verwandt mit estnisch und ungarisch, wird vermutet, aber vielleicht stimmt es auch, dass ihre Schwester im Geiste die Sprache der Finken ist. Die Ähnlichkeit zwischen finnischen Wörtern und Vogelschwärmen jedenfalls ist frappierend: Beides völlig unübersichtlich und für Laien nicht zu verstehen – aber immerhin klingt alles nett und freundlich. 

3.

Die moderne Fichte trägt:
Sternmoos am Fuß
Bartflechte im Geäst
Baumpilze im Stamm und
Eines Tages auf der Rinde
Nur keine Krone
Seit dem letzten Winter.