Wellengang

Wie lange hat es geregnet, zehn Wochen am Stück, mindestens? Die brütend heißen Tage im Juni fühlen sich an wie eine Erinnerung an den Sommer vor ein paar Jahren (immer der, der zu seinem Zeitpunkt der wärmste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen war). Nachrichten von Waldbränden lese ich durch beschlagene Brillengläser und wische mit Badewannenfingern weiter zur nächsten Katastrophe. Jedes Mal, wenn ich nass werde, denke ich, dass ich beim nächsten Mal nass werden wirklich ausraste, aber so viel kann ja kein Mensch ausrasten, und außerdem bin ich die allermeiste Zeit damit beschäftigt, den Hund abzutrocknen und mich aus an den Beinen klebenden nassen Hosen zu schälen. Als es am Donnerstag gegen zehn Uhr anfängt zu regnen und den Rest des Tages nicht mehr aufhört, beginne ich mich mit der offensichtlichen Tatsache, dass die Klimakrise für Norddeutschland einen ewigen Herbst bedeutet, einfach abzufinden. Tage in Nasser-Aschenbecher-Grau und Grünkohlgrün, ich werde eine bessere Regenjacke brauchen.

Umso überraschter bin ich, als sich jenseits des Kanals die Wolkendecke einfach auflöst. Zum Glück habe ich Badesachen dabei. Ungefähr an diesem Tag vor einem Jahr war ich an der Steilküste an der perfekten Badestelle baden: Keine Steine, keine Sandbank, einfach in die Ostsee waten, an kritischen Stellen kurz die Zähne zusammenbeißen, nach ein paar Metern ist es schon tief genug zum schwimmen. Die Konstellation der großen, unbeweglichen Steine, die dort am Strand langen, habe ich mir genau eingeprägt, damit ich wieder kommen kann. Und ich finde sie heute tatsächlich wieder, obwohl sich die Steilküste seit meinem letzten Besuch im Mai verändert hat. The coast is always changing, alles wie immer, nur dass der Strand viel schmaler ist als sonst. Ist etwas von der Steilküste abgesackt oder haben wir einfach nur Flut? Der Wellengang jedenfalls ist für Ostsee-Verhältnisse beeindruckend. Windig ist es eigentlich nicht. Also tatsächlich Flut? Immerhin ist es so einfacher, nass zu werden, es klappt sogar ohne Zähne zusammenbeißen an kritischen Stellen. Unter der Wasseroberfläche ist alles anders als im letzten Jahr: Spitze Steine an den Füßen, Seegras, Algen, wahrscheinlich sogar Krebse, die Jagd auf die Zehen der seltenen Badegäste machen. Ich denke, dass ich nicht zu weit hinaus schwimmen sollte, wegen der Strömung, und der Wellen, und weil es doch ganz schön kalt ist. Vielleicht schaffe ich es, meine Haare nicht nass werden zu lassen. Klappt allerdings nicht: Als ich mich umdrehe, um über die gnadenlosen Steine wieder zurück an den Strand zu waten, klatscht eine Welle über meine Frisur.

Ein Gedanke zu “Wellengang

Hinterlasse einen Kommentar