Outtakes (2)

Die Handynotizen sind vorläufig aufgebraucht und alle anderen mobilen Textfragmente noch in potenzieller Erstverwendung, aber weil das hier mein 100. Eintrag auf diesem Blog ist, habe ich hier ein weiteres Outtake aus der Erzählung, in der u.a. ein Fahrrad geklaut wird (allerdings von meiner Festplatte und nicht von meinem Smartphone). Der Moment nach dem Fahrraddiebstahl, der in der eigentlichen Geschichte sehr knapp abgehandelt wird, bekommt hier ein bisschen mehr Raum. Außerdem gibt es Koch- und Ernährungstipps sowie eine dritte unglückliche Liebschaft, die es ebenfalls nicht in den Haupttext geschafft hat. Viel Vergnügen damit!

Das waren fünf Minuten, dachte ich. Fünfeinhalb vielleicht. Wie schnell kann das Verbrechen in dieser Stadt schon sein? Eine Weile stand ich dort und starrte auf den Fahrradständer, auf dem ein ausgeblichener FCK AFD-Sticker klebte und an dem noch ein anderes Fahrrad lehnte, ein hellgrünes Mountainbike, gesichert mit einem teuer aussehenden Bügelschloss, bis mich eine Stimme aus der Schockstarre riss.
„Entschuldigung, habensen bisschen Kleingeld?“
Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht eines älteren Herrn mit Tränentattoo, der mir erwartungsvoll ein leeres, abgewetztes Portmonee entgegenstreckte und der mir irgendwie vertraut vorkam.
„Weiß nicht, mal gucken“, antwortete ich und begann, in meiner Jackentasche zu kramen, obwohl ich wusste, das darin nur ein paar Kaugummis und alte Taschentücher waren. „Nee, leider nicht. Tut mir leid!“
„Alle sind so geizig heutzutage“, sagte er. „Dabei mache ich sogar Kunststücke für die Leute!“
Auf seinen roten Inlineskates, die ich bis eben gar nicht bemerkt hatte, rollte er überraschend flink davon, und da fiel es mir wieder ein: Letzte Woche hatte er mich noch auf einem Tretroller verfolgt.

Ich lief noch einmal alle Fahrradständer auf dem Supermarkt ab, obwohl ich bereits ahnte, dass es aussichtslos war. Wäre es angemessen, jetzt auf der Stelle in Tränen auszubrechen?, fragte ich mich, als mir dämmerte, dass mir nichts anderes blieb, als zu Fuß nach Hause zu gehen. Also ging ich, und als ich auf der anderen Straßenseite Justus erblickte, mit dem mich trotz unserer aufgelösten amourösen Verwicklung noch genug verband, dass ich ihm jetzt gern mein Leid geklagt hätte, winkte ich ihm überschwänglich und machte ein paar Schritte in seine Richtung. Er winkte fröhlich zurück, doch dann sah ich, dass er gar nicht alleine war, also rief ich „Sorry, keine Zeit für Smalltalk!“ und kehrte zurück auf meine Spur. Als ich mich noch einmal vorsichtig umdrehte, sah ich, wie er mit den Schultern zuckte und seine Hand in die hintere Hosentasche seiner Begleitung steckte. 

Zuhause wusste ich gar nicht, worüber ich zuerst nachdenken sollte, also holte erst einmal die rote Paprika, die Zucchini und den Lauch, die ich eingekauft hatte, aus meinem Rucksack und legte sie nebeneinander auf den Küchentisch. Rote Paprika ist die einzige Gemüsesorte, die ich wirklich mag. Für Zucchini hatte ich nie große Gefühle, ich könnte nicht einmal sagen, wie sie schmecken, aber man muss ja Gemüse essen, wegen der Vitamine und wegen der Tiere und kann sich dabei nicht immer nur von Paprika ernähren. Außerdem sind Paprika und Zucchini zusammen schon eine ganz gute Grundlage für ein passables asiatisches Gericht. Angebraten und mit Kokosmilch abgelöscht schon fast ein Thai-Curry, mit Sojasauce beinahe Chop Suey. Ich halbierte die Zucchini und tauschte die eine Hälfte gegen die andere halbe Zucchini aus, die schon seit zwei Wochen im Kühlschrank lag und ganz schrumpelig und auch ein bisschen pelzig geworden war. Die andere Hälfte zerhackte ich in kleine Würfel und warf sie zusammen mit der Paprika und dem Reis von gestern in eine Pfanne. Den Lauch würde ich auf der Arbeitsfläche vertrocknen lassen, genauso wie alle seine Vorgänger. Niemand, der nur für sich allein sorgen muss, braucht so große Zwiebeln, denke ich jedes Mal, wenn ich einenvon ihnen in der Biotonne verschwinden lasse. Leider vergesse ich das beim Einkaufen immer wieder. 

Outtakes (1)

Ich bin fast ein bisschen traurig darüber, dass ich jetzt schon alle meine vergessenen Recherchen abgearbeitet habe, aber es gibt in meinen Handynotizen noch ein paar andere Notatgattungen, z.B. das vor dem Einschlafen im Bett oder außerhalb der Reichweite meines Laptops oder Notizbuchs ins Handy getippte Textfragment. Das allermeiste davon gehört zu Langzeitprojekten, an denen ich immer anfallartig und dann wieder wochenlang gar nicht arbeite und bei denen ich nicht so recht steuern kann, wann die zündende Idee kommt (das meiste fällt mir aber immer dann ein, wenn ich abends schon stundenlang geschrieben und dann endlich den Laptop zugeklappt habe, um schlafen zu gehen). Ich habe eigentlich nur ein einziges Fragment gefunden, das ich vermutlich wirklich nicht mehr verwenden werde, weil die Erzählung, zu der es einmal gehören sollte, schon lange abgeschlossen ist. In diesem Text wird u.a. ein Fahrrad geklaut, was hauptsächlich dazu dienen sollte, die Konzepte „Schicksal“ und „Karma“ literarisch und pseudophilosophisch zu erkunden. An irgendeinem Punkt habe ich mir auch aufgeschrieben, wie die Protagonistin zu ihrem später geklauten Fahrrad gekommen ist, aber dafür nie einen Platz im Handlungsverlauf gefunden (und selbst wenn, hätte ich es an einem anderen Punkt mit großer Sicherheit wieder herausgekürzt). Stattdessen landet es nun in diesem Internet, denn der Struggle, von der Fahrradindustrie übersehen zu werden, ist real.

Als ich nach ein paar Monaten Arbeit endlich genug Geld für ein Fahrrad zusammen hatte, das sich nicht in absehbarer Zeit in eine totale Schrottmühle verwandeln würde, war es mitunter schwierig, genau so eines zu finden. In den meisten Fahrradläden versuchte man, mich für Räder zu begeistern, die vor allem eins sagten: Ich bin ein verantwortungsbewusster Bürger und Arbeitnehmer und sehe Radfahren nicht nur als wertvolle Ergänzung zur Work-Life-Balance, sondern auch als gesunde Alternative zum Auto. Deshalb muss mein Rad nicht nur genauso viel kosten wie eines, man muss ihm seinen Preis auch ansehen. Mattschwarz als Zeichen für Wohlstand, am besten in Kombination mit Ortlieb-Fahrradtaschen. Keines dieser Fahrräder sprach zu mir, und außerdem waren sie mir alle zu groß. Angesichts dieser zweirädrigen Schlachtschiffe fühlte ich mich bald wie ein vergessener Zwerg in einer Gesellschaft voller riesenhafter Mutanten, als der letzte Hippie, der nicht einsehen wollte, dass Radfahren in den 2010er Jahren nicht nur Qualität und Sicherheit, sondern vor allem eins bedeutete: Krieg. Die lokalen Fahrradhändler behandelten mich herablassend, sie sahen mir an, dass ich keine realistische Kundschaft war. Gemütliche Hollandräder, die perfekt für den Einkauf saisonaler Gemüsesorten aus der Region auf dem Wochenmarkt gewesen wären, bot man mir gar nicht erst an. Dafür waren meine Augenringe zu tief, und sie konnten ja nicht wissen, dass sich hinter meiner unausgeschlafenen Fassade durchaus die Bemühung versteckte, mich gesund zu ernähren. Erst, als ich mich mit meinem Schicksal abgefunden hatte und versuchten wollte, mich in eines dieser mattschwarzen Schlachtschiffe aus der unteren Preisklasse zu verlieben, entdeckte ich plötzlich ein kleines, dunkelrotes Fahrrad am Rand eines Schaufensters.