Outtakes (1)

Ich bin fast ein bisschen traurig darüber, dass ich jetzt schon alle meine vergessenen Recherchen abgearbeitet habe, aber es gibt in meinen Handynotizen noch ein paar andere Notatgattungen, z.B. das vor dem Einschlafen im Bett oder außerhalb der Reichweite meines Laptops oder Notizbuchs ins Handy getippte Textfragment. Das allermeiste davon gehört zu Langzeitprojekten, an denen ich immer anfallartig und dann wieder wochenlang gar nicht arbeite und bei denen ich nicht so recht steuern kann, wann die zündende Idee kommt (das meiste fällt mir aber immer dann ein, wenn ich abends schon stundenlang geschrieben und dann endlich den Laptop zugeklappt habe, um schlafen zu gehen). Ich habe eigentlich nur ein einziges Fragment gefunden, das ich vermutlich wirklich nicht mehr verwenden werde, weil die Erzählung, zu der es einmal gehören sollte, schon lange abgeschlossen ist. In diesem Text wird u.a. ein Fahrrad geklaut, was hauptsächlich dazu dienen sollte, die Konzepte „Schicksal“ und „Karma“ literarisch und pseudophilosophisch zu erkunden. An irgendeinem Punkt habe ich mir auch aufgeschrieben, wie die Protagonistin zu ihrem später geklauten Fahrrad gekommen ist, aber dafür nie einen Platz im Handlungsverlauf gefunden (und selbst wenn, hätte ich es an einem anderen Punkt mit großer Sicherheit wieder herausgekürzt). Stattdessen landet es nun in diesem Internet, denn der Struggle, von der Fahrradindustrie übersehen zu werden, ist real.

Als ich nach ein paar Monaten Arbeit endlich genug Geld für ein Fahrrad zusammen hatte, das sich nicht in absehbarer Zeit in eine totale Schrottmühle verwandeln würde, war es mitunter schwierig, genau so eines zu finden. In den meisten Fahrradläden versuchte man, mich für Räder zu begeistern, die vor allem eins sagten: Ich bin ein verantwortungsbewusster Bürger und Arbeitnehmer und sehe Radfahren nicht nur als wertvolle Ergänzung zur Work-Life-Balance, sondern auch als gesunde Alternative zum Auto. Deshalb muss mein Rad nicht nur genauso viel kosten wie eines, man muss ihm seinen Preis auch ansehen. Mattschwarz als Zeichen für Wohlstand, am besten in Kombination mit Ortlieb-Fahrradtaschen. Keines dieser Fahrräder sprach zu mir, und außerdem waren sie mir alle zu groß. Angesichts dieser zweirädrigen Schlachtschiffe fühlte ich mich bald wie ein vergessener Zwerg in einer Gesellschaft voller riesenhafter Mutanten, als der letzte Hippie, der nicht einsehen wollte, dass Radfahren in den 2010er Jahren nicht nur Qualität und Sicherheit, sondern vor allem eins bedeutete: Krieg. Die lokalen Fahrradhändler behandelten mich herablassend, sie sahen mir an, dass ich keine realistische Kundschaft war. Gemütliche Hollandräder, die perfekt für den Einkauf saisonaler Gemüsesorten aus der Region auf dem Wochenmarkt gewesen wären, bot man mir gar nicht erst an. Dafür waren meine Augenringe zu tief, und sie konnten ja nicht wissen, dass sich hinter meiner unausgeschlafenen Fassade durchaus die Bemühung versteckte, mich gesund zu ernähren. Erst, als ich mich mit meinem Schicksal abgefunden hatte und versuchten wollte, mich in eines dieser mattschwarzen Schlachtschiffe aus der unteren Preisklasse zu verlieben, entdeckte ich plötzlich ein kleines, dunkelrotes Fahrrad am Rand eines Schaufensters.

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