Plot Twist

„Sie hatten ja so viel Endometriose, wir mussten doppelt so lange operieren wie geplant!“ Wieder und wieder kriecht dieser Satz durch mein inneres Ohr, als ich langsam aus der Narkose aufwache. Endometriose, puh, das muss ich geträumt haben, Das Wort PILLE geistert außerdem noch durch meinen Kopf, und: LANGZEITZYKLUS, jaja Unterbewusstsein, denke ich, so ein Mumpitz, das kommt davon, wenn man jahrelang Symptome googelt, aber trotzdem zu selten zum Arzt geht. „Auf einer Skala von 1-10, wie stark sind ihre Schmerzen?“, fragt eine Pflegerin, und ich antworte „Drei“, weil das die einzige Zahl ist, die mir gerade einfällt. „Ist ihnen übel?“, fragt sie außerdem. Ich habe keine Ahnung, ob mir übel ist, es ist alles zu verschwommen, um irgendeine Frage korrekt zu beantworten, meine Brille ist noch im Rucksack und ich bin vermutlich im Aufwachraum. „Ja, ein bisschen“, sage ich vorsichtshalber. Die Pflegerin drückt mir eine Spucktüte in die Hand und geht zum Patienten neben mir. „Hat irgendwer zu mir irgendwas wegen Endometriose gesagt?“, frage ich sie, als sie mich zum dritten Mal irgendwelche Schmerzwerte abfragt. Sie schüttelt den Kopf. „Ich überwache hier nur Ihre Vitalzeichen“, sagt sie achselzuckend. Dann werde ich auf mein Zimmer geschoben.

Es dämmert schon, als eine Ärztin das Zimmer betritt. Sie lässt sich erschöpft auf die Fensterbank neben meinem Bett fallen, die Haare zerzaust. Muss ein langer Tag gewesen sein. Meine Brille habe ich mittlerweile wiederbekommen, aber es ist vor allem ihre Stimme, die ich wieder erkenne. „Sie hatten ja so viel Endometriose, wir mussten doppelt so lange operieren wie geplant!“, sagt sie. Dann habe ich es doch nicht geträumt. Sie zählt alle Orte auf, an denen sie Endometrioseherde gefunden hat, ich kann ihr kaum folgen, bin noch ein wenig benommen. „Eine Zyste haben wir auch entfernt“, beendet sie ihren Bericht. „Ja, wegen der war ich hier“, sage ich. Sie ignoriert mich und fährt fort. „Jedenfalls würde ich Ihnen empfehlen, die Pille im Langzeitzyklus zu nehmen, damit sich keine neuen Herde bilden. Außerdem kommt Montag der Sozialdienst, mit dem sie dann ihre Reha planen können.“ Reha? „Da kann man viel machen, vor allem mit Ernährung und Sport.“ Ich weise sie darauf hin, dass ich Montag ja eigentlich schon weg bin, ich sollte doch nur eine Nacht stationär bleiben und dann nach Hause, aber dann fällt mir auf, dass aus meinem Bauch ein Schlauch zu einem unappetitlich aussehenden Plastikbeutel führt und ich mit dem linken Arm an einem Tropf hänge. Die Ärztin schüttelt nur den Kopf. „Nee nee“, sagt sie. „Sie kommen erst hier raus, wenn sie ihre Drainage nicht mehr brauchen. Und wenn Sie Stuhlgang hatten.“ Herrgott, denke ich, das ist ja wie bei Feuchtgebiete. Sie verabschiedet sich und geht, und ich starre an die Decke und hoffe, dass aus dem Tropf wenigstens irgendwas bewusstseinserweiterndes in meine Venen läuft (in Wahrheit ist es bloß Kochsalzlösung).

Und: Action!

Den Pfleger, der mein Bett und mich von der Station abholt und in Richtung OP schiebt, kann ich nicht genau erkennen, weil ich meine Brille schon ablegen musste. Er hält mir eine Tablette und ein Glas Wasser hin und sagt, dass es jetzt losgeht. Durch meinen -5-Dioptrien-Schleier kann ich erahnen, dass er etwa 2×2 Meter groß, glatzköpfig und tätowiert ist. Sein Bettenfahrstil verrät ähnliches. Er schiebt mich in einen Raum, den er „Holding“ nennt, parkt mich links neben der Eingangstür, klippt mir ein Pulsmessgerät aus Silikon an den Zeigefinger, schaltet den Computer neben mir ein. „Und: Action!“ sagt er und verlässt den Raum.

Ich versuche, meine Herzschläge auf dem Monitor rechts neben meinem Kopf zu erkennen, aber ohne Brille: keine Chance. Lässt sich daran ablesen, ob die Tablette von eben schon wirkt? Ich könnte nicht sagen, ob ich entspannt bin. Eigentlich zappele ich hauptsächlich deshalb nicht, weil ich mich nicht traue. Was, wenn dann mein Blutdruck zu hoch ist und sie mich doch nicht operieren wollen? Ich will doch nur die blöde Zyste loswerden. Also bleibe ich regungslos liegen, beobachte die verschwommenen Farbkleckse um mich herum, belausche die Gespräche, die Felipe, Chef der Holding, am Telefon führt. Er klingt ziemlich beschäftigt, aber keineswegs gestresst. Einzig, als er sich die Hände desinfizieren will und einer der Desinfektionsspender leer ist, entfährt ihm ein genervtes Stöhnen.

In der Schleuse zum OP warten einige Menschen in grün, darunter auch eine entfernte Bekannte. „Ah, du hier?“ „Ja, du bist auf dem OP-Plan immer weiter nach hinten gerückt, ich dachte schon, wir sehen uns gar nicht mehr!“ Kiel halt. Wir smalltalken, meine Venen werden begutachtet (sind leider nur so mittel), „Und, schon überlegt, was du träumen willst?“ „Du kriegst jetzt zwei Mittel, von dem einen wirst du ganz müde, von dem anderen schläfst du ein!“ „Cool!“, sage ich. „Ah, ich merk was, irgendwie dreht sich das so ein bisschen hier…“
Ich kann meine Augen nicht mehr offen halten.

Irrgärten

1.

Die Sonne steht schon reichlich tief am Himmel, als wir loslaufen. Stadtauswärts Richtung Westen könnte es noch einige Strahlen von ihr einzufangen geben. Es gibt dort einen Friedhof, den ich immer für eher klein gehalten habe. Ich war dort schon öfter spazieren und habe mich immer gefragt, was das eigentlich für ein Friedhof sein soll, auf dem es gar keine Kapelle gibt. Da, wo ich normalerweise rechts abgebogen und durch ein eher kleines Tor gegangen wäre, biegen wir links ab, laufen eine mittelgroße Straße entlang, auf der jetzt nicht mehr allzu viel los ist und betreten den Friedhof durch ein ausladendes Tor, das ich bislang nicht kannte. Links davon liegt die Kapelle, die ich immer vermisst habe. Wir folgen dem Hauptweg, der uns aus der Stadt hinaus führt, vorbei an zahllosen Grabsteinen, Urnengräbern und Familiengruften. Hin und wieder überholen uns Menschen auf modernen, mattschwarzen Fahrrädern, bei deren Surren wir nie wissen, ob es E-Bikes oder nur besonders schnelle Radler*innen sind.

Es soll einen Schleichweg geben, die uns vorbei an dem auffällig runden 60er-Jahre-Rathaus und dem Kronshagener Bahnhof (klingt urban, ist es aber ganz und gar nicht) in eine hübsche Spaziergegend bringen, aber der für die Orientierung maßgeblich wichtige Trampelpfad ist durch Gleisbauarbeiten blockiert, die jetzt, um beinahe 22 Uhr, gerade erst beginnen. Wir weichen auf einen anderen Pfad aus, versuchen uns an unserem Bauchgefühl und dem verbleibenden hellen Streifen am Horizont zu orientieren und landen in einem Industriegebiet. Ein oranger Gitterzaun, hinter dem dutzende ebenso orange Müllfahrzeuge auf ihren nächsten Einsatz warten, weist uns den Weg ins Gehege. Was dort auf uns wartet, ist haarig und gehörnt, aber weitestgehend ungefährlich: Kein Minotaurus, nur schottische Hochlandrinder. 

2.

Ein Raum-Zeit-Paradoxon, ausgelöst durch leicht panisches Vorverlegen eines Termins im Kopf: Ich bin mindestens eine halbe Stunde zu früh aufgestanden für einen Krankenhaustermin, der eigentlich erst eine halbe Stunde später stattfindet, als ich mir aufgeschrieben habe, was dadurch bedingt ist, dass man eine halbe Stunde früher da sein muss wegen der komplizierten Abläufe an der Flughafenterminal-artigen Patien*innenaufnahme. Ich warte gerade auf mein Toast, als die gynäkologische Ambulanz anruft und fragt, ob ich eine halbe Stunde früher kommen könne, da die Patientin vor mir ausgefallen sei. „Kein Problem“, behaupte ich, „Ich hatte eh geplant, eine halbe Stunde früher da zu sein.“ Muss ich dann nicht eigentlich noch eine halbe Stunde früher da sein?, fällt mir erst ein, als ich aufgelegt habe und mein Toast aus dem Toaster fische. Wer soll bei all diesen eingeplanten und nicht eingeplanten halben Stunden noch den Überblick bewahren? 

Ich war vor ein paar Wochen zuletzt hier, kenne also das Prozedere an den Aufnahmeterminals noch, führe meine Gesundheitskarte ein, ziehe eine Nummer, warte, bis diese am Bildschirm aufgerufen wird, verschwinde in einem der Glaskästen, unterschreibe, dass ich keine Covid-19-Symptome habe, nicht in einem Risikogebiet war und meine Biomaterialien gern der Forschung zur Verfügung stelle, bekomme ein paar Zettel und werde zur gynäkologischen Ambulanz weitergeschickt. Dort bekomme ich ein Klemmbrett mit einem mehrseitigen, eng beschriebenen Fragebogen überreicht und werde ins Wartezimmer gesetzt. Bei den sehr wenigen Punkten, bei denen ich JA ankreuzen müsste, ist kaum Platz für Erklärungen („Krone am vorletzten Backenzahn unten links“ und „Rauchen ja, aber im Jahresdurchschnitt vielleicht ein bis zwei Zigaretten pro Monat“). Als ich ins Untersuchungszimmer gebeten werde, bin ich längst nicht fertig.

Die Ovarialzyste, wegen der ich noch einmal herkommen sollte, ist noch da. Auf den Ultraschallbildern sieht sie eher aus wie ein schwarzes Loch, eine klar umrissene dunkle Fläche, was medizinisch betrachtet wohl ein gutes Zeichen ist, „resonanzarm“ (oder so ähnlich) sagt sie Ärztin zu ihrer Kollegin. Ein schwarzes Loch in der Körpermitte – als Bild kommt es mir gar nicht so befremdlich vor. Es hat einen Durchmesser von 9,5 cm. Vielleicht ist es mit jeder Einschränkung, jedem Angriff auf meine/unsere/alle reproduktiven Rechte/körperliche Selbstbestimmung/etc., von denen ich gehört, gelesen oder die ich selber erfahren habe, ein kleines Stück gewachsen? Vielleicht ist es auch ein Container für alle körperlichen Dinge, über die wir uns jahrelang ausgeschwiegen haben. Jeder undercover organisierte Tampon, jede unbeholfen gegoogelte und anschließend aus der Suchhistorie gelöschte Untenrum-Frage ein Kubikmillimeter dunkle Materie im Körper. Oder vielleicht sammeln sich dort alle Dinge, die ich in den letzten 31 Jahren gedacht und wieder vergessen habe.

Wir bleiben also bei der OP, sagt die Ärztin, und ich nicke. Ich krempele die Ärmel hoch und bekomme Blut abgenommen. Wir gehen Checklisten mit Komplikationen durch, die wahrscheinlich nicht passieren werden, ich bekomme einen Zettel mit einer Raumnummer und eine Wegbeschreibung, an der Patientenaufnahme vorbei, linksrechtslinks, zweiter Fahrstuhl, dritter Stock, dann geradeaus und die dritte Tür links, alle Informationen perlen an mir ab wie an einem Regencape, und selbst, wenn sie es nicht täten: Wer kann sich Wegbeschreibungen eine ganze Woche lang merken? Ich jedenfalls nicht. Zum Aufklärungsgespräch in der Anästhesieambulanz muss ich ebenfalls noch, auch hier kurz ins Wartezimmer, endlich Zeit, den ewig langen Fragebogen auszufüllen, aber als ich ins Sprechzimmer gerufen werde, bin ich noch immer nicht fertig.