Herbst in der kaltgemäßigten Zone

1.

Während der Finnlandreise zuhause vergessen: Ein realistischer Maßstab für Dinge und Orte, die Menschen kennen könnten oder auch nicht. In Mustarinda, wo ich im September zu den Artists in Residence gehöre, sage ich nicht: „I am from Germany.“ Ich sage: „I am a writer and I live in Kiel.“ Niemand von meinen temporären Mitbewohner*innen hat jemals etwas von der Stadt gehört, in der ich lebe, außer der Malerin aus Helsinki, deren Partner zufällig auch aus Kiel kommt. Eine andere Finnin fragt mich, wie groß Kiel ist. „Half the size of Helsinki“, schätze ich. Helsinki hat etwas über eine halbe Million Einwohner*innen und eine Metro mit roten Plastiksitzen. Was ich auch lerne: In Finnland leben genauso viele Menschen wie in Dänemark. Auf die Region Kainuu umgerechnet bedeutet das: Ich begegne auf 16 Tage verteilt insgesamt 8 Menschen zufällig im Wald.

2.

Das ist ja ziemlich nah an Russland, sagen einige Leute, denen ich von meinen Reiseplänen für den Herbst erzähle und lassen durchblicken, dass sie diesem Umstand einiges Gefahrenpotenzial beimessen. Als ich hundefreundliche Orte zwischen Helsinki und Hyrynsalmi recherchiere, lerne ich, dass die Wölfe in Finnlands Osten gelegentlich mit Hunden aneinandergeraten, was für die Hunde meist nicht gut ausgeht. Viele Leute in den etwas dünner besiedelten Gebieten Finnlands haben Hunde, denen man die Verwandtschaft mit Wölfen noch ansieht. Spitze Ohren, dichtes Fell, Nässe und Kälte sind ihnen völlig egal. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein dünn befellter, schlappohriger Hund und ich als Snack für finnische Wölfe enden?

Aus dem Fenster meines finnischen Schreibzimmers glaube ich einen Wolf zu sehen, der sich auf den zweiten Blick als schwarz-weißer, herrenloser Husky mit Peilsender herausstellt. Im Wald treffe ich einen schwarzen Wolfsspitz in gelber Sicherheitsweste, der sich von seiner Pilze sammelnden Besitzerin abgeseilt hat. Ansonsten keine Wölfe und auch keine Bären. Nur ein Mann in hohen Gummistiefeln, der einen Eimer bei sich trägt, auf russisch, polnisch oder ukrainisch telefoniert und danach wieder im Dickicht verschwindet.

3.

Die nächste Straßenlaterne ist von Mustarinda vermutlich genauso weit entfernt wie das nächste Dorf mit Supermarkt: Etwa 25 Kilometer. Auf der letzten Hunderunde vor dem Zubettgehen, die in den allermeisten Fällen nach Einbruch der Dunkelheit stattfindet, höre ich mein Blut in den Ohren rauschen, jedes Knistern im Gebüsch eine neue Portion Adrenalin für die Nervenbahnen. Als sich in der einzigen wolkenlosen Nacht etwas seltsames Grünes am Horizont zusammenbraut, falle ich vor Schreck nur deshalb nicht in Ohnmacht, weil mir rechtzeitig auffällt, dass das Polarlichter sein müssen.

4.

Die Luft zwischen den Fichten riecht schon am 4. September nach Schnee. Ich bekomme akute Sehnsucht nach Winter und versuche mir die 1,40 Meter hohe Schneedecke vorzustellen, die laut einer Infotafel im April 2020 den Boden hier bedeckt habe. Nyskä, mit der wir eine Tour durch den 10.000 Jahre alten Wald hinter dem Haus machen, erzählt uns, dass viele Kiefern und Fichten diese Schneedecke seit ein paar Jahren nicht mehr tragen können und ihnen deshalb scharenweise die Kronen abknicken. Es liegt am Klimawandel, sagt sie, und dass ihr das Sorgen bereitet.

5.

In Mustarinda bin ich die einzige Person, die keine richtige Funktionskleidung dabei hat. Nach einem längeren Spaziergang durch nasse Blaubeersträucher brauchen meine Dr. Martens fünf Tage, bis sie wieder richtig trocken sind (obwohl sie mit Zeitung ausgestopft auf der Heizung liegen). Ich kann nicht sagen, ob ich grundsätzlich zu naiv oder zu eitel bin, um meine Kleidung an Umwelt und Wetterlage anzupassen. Glücklicherweise gibt es eine große Auswahl an Leihgummistiefeln, dank derer ich die übrige Zeit in Finnland trockenen Fußes durch den Wald komme. Seit ich als Teenager Fräulein Smillas Gespür für Schnee gelesen habe, sehne ich mich nach der ruhigen Kälte borealer Landschaften. Auf dem Breitengrad meiner Träume muss ich nun feststellen, dass ich für ein Leben außerhalb mittelgroßer Städte in gemäßigten Klimazonen nur bedingt geeignet bin.

Trotzdem laufe ich jeden Tag stundenlang wie im Rausch durch den Wald: Auf den Steinen wachsen immer mehr extraterrestrisch anmutende Moosarten, sogar die Blätter der Bodendecker färben sich rot, tote Bäume verwandeln sich in Waldgeister, die über meine endlosen Streifzüge durch den Wald wachen. Ich vergesse die Zeit, verliere mich im Farn und finde trotzdem immer wieder zurück nach Hause.

6.

Als am Abend des 29. Septembers der erste Schnee in Mustarinda fällt, bin ich schon längst nicht mehr vor Ort. Ich trete meine Heimreise am 19. September an, zehn Tage früher als ursprünglich geplant, weil ich das Luxusproblem habe, am 22. September einen Kunstpreis zu bekommen, den ich besser persönlich abholen sollte. Wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln reist und zwischendurch noch die eine oder andere Hunderunde einplanen muss, dauert es zwei bis drei Tage, die knapp 2000 Kilometer zwischen Mustarinda und Kiel zurückzulegen. Knapp 30 Stunden der Reisezeit verbringe ich auf der Fähre von Helsinki nach Travemünde. Die meiste Zeit davon liege ich auf dem Bett in meiner Kabine, von der Ostsee sanft in einen leichten Dämmerschlaf geschaukelt, schaue abwechselnd finnisches und deutsches Fernsehen, ungefähr zehn Folgen Pawn Stars und später hauptsächlich Nachrichten, als mir auf diversen Kanälen immer wieder ein und dasselbe Bild von Putin begegnet: Der Blick in die Kamera gerichtet, ein Arm flach auf dem Tisch, einer aufgestützt und angewinkelt, als würde er gleich durch den Bildschirm springen wollen. Die finnischen Untertitel seiner Fernsehansprache sagen mir selbstredend nichts. Erst im ARD Morgenmagazin lerne ich den merkwürdigen Begriff „Teilmobilisierung“. Die allzu vielen Buchstaben des finnischen Äquivalents finden gar nicht erst den Weg durch meine Stirnfalten.

7.

Auf dem Parkplatz vor dem Fährterminal in Travemünde sieht es am 21. September gegen 22 Uhr genauso aus wie vor drei Wochen um dieselbe Zeit: Trotz Straßenlaternen ziemlich dunkel. Nur das Pärchen mit dem Galgo, das auf der Hinfahrt noch vor dem Terminal gewartet hat, fehlt heute. M. holt mich ab und parkt sogar auf demselben Parkplatz wie bei meiner Abreise. Ich frage mich, ob ich eigentlich noch dieselbe Person bin, die hier vor drei Wochen abgegeben wurde.

24 Stunden später habe ich zwar noch keine Antwort auf diese Frage, aber ein neues Attribut: Laut Ministerpräsident Daniel Günther sind die Kunstpreisträgerin Dörte Hansen und ich mit unserer jeweiligen Arbeit „wichtige Botschafterinnen“ des Landes Schleswig-Holstein. Mir ist etwas mulmig ob der Verantwortung, die hier mitschwingt, bin ich dafür überhaupt qualifiziert? Ich schreibe eigentlich nur in Limbus über Schleswig-Holstein (und selbst da sind es nur Neumünster und umliegenden Bahnstrecken) und ansonsten nur hier und da über Kiel, bin nicht hier aufgewachsen, verstehe kein Platt, habe nicht einmal ein Ankertattoo. Es ist wenig überraschend, dass es um das Ereignis Kunstpreisverleihung SH herum allgemein sehr viel heimatet. Während der Veranstaltung dauert es nicht lange, bis in einem Redebeitrag der Begriff „Heimatroman“ fällt und eigentlich die Romane von Dörte Hansen gemeint sind, aber weil es theoretisch passen könnte, wird Das Orakel von Bad Meisenfeld direkt unter unserem scheinbar gemeinsamen Thema subsummiert. Zumindest glaube ich das zu verstehen (oder verstanden zu haben, schließlich liegen das Ereignis und der Entstehungszeitraum dieses Textes recht weit auseinander). Im Vorfeld der Preisverleihung gibt es außerdem einen Artikel in den Kieler Nachrichten, indem ein Zitat von mir steht, das ich so nie abgegeben habe: „Es ist schön, von der Heimat geehrt zu werden.“ „Hast du das wirklich so gesagt?“, fragt J. entsetzt, nachdem sie den Artikel gelesen hat. Ich denke an das Zoom-Interview mit der netten KN-Kulturredakteurin, das ich noch von Finnland aus gegeben habe und krame in meinen Erinnerungen danach, ob ich dabei wirklich das H-Wort benutzt haben könnte. Was mir dieser Preis bedeuten würde, an die Frage kann ich mich noch genau erinnern, und auch, wie ich bei der Antwort deutlich zu weit ausgeholt habe: Dass ich zum Studieren unbedingt nach Schleswig-Holstein wollte, weil ich mir vorgestellt habe, dass neblige Strandspaziergänge und anschließend etwas schreiben perspektivisch ein stabiler Lebensentwurf für mich sein könnte (was ich verschwiegen habe: dass ich eigentlich nach einem Weg gesucht habe, mein Leben in einem Turbostaat-Album zu verbringen), und dass es mich sehr freut, so eine Auszeichnung von dem Zuhause zu bekommen, das ich mir selbst ausgesucht habe. Ich kann es der Redakteurin gar nicht verübeln, dass sie meine vermutlich etwas konfusen Ausführungen eben lokalzeitungstauglich zusammenkürzen musste. Tatsächlich finde ich, dass es sich in Schleswig-Holstein / Kiel sehr gut lebt, wahrscheinlich würde ich eher auswandern, als mich jemals in einer anderen Region in Deutschland niederzulassen, aber das H-Wort können reaktionäre Wirrköpfe wie Horst Seehofer gern bei ihren Gartenzwergen behalten. Immerhin fällt mir bei der Preisverleihung die korrekte Antwort auf die Frage aus dem Interview ein: Ich fühle mich sehr gut gefördert und bin dafür ganz aufrichtig dankbar. (Die KN machen daraus: „Ich fühle mich sehr gut gefeiert“ – spreche ich wirklich so undeutlich?)

8.

Am Abend des 29. September bekomme ich nicht nur das erste Schneefoto aus Mustarinda, sondern lese auch davon, dass Finnland am darauffolgenden Tag die Grenze nach Russland schließen wird, wegen Putins Teilmobilisierung und der Reservisten, die nun versuchen, das Land zu verlassen. Ich liege in einem Ferienhaus in Dänemark auf dem Sofa und schaue bei Google Maps nach, wie weit ich bis vor zehn Tagen noch von der russischen Grenze entfernt war. Nur etwa knapp 100 Kilometer, das ist wirklich nicht weit weg. Außerdem gibt es mehrere Gaslecks in der Nordstream 1 an der schwedischen Küste. In einem Artikel dazu finde ich eine Karte, auf der der Verlauf der Gaspipeline verzeichnet ist. Er deckt sich ziemlich genau mit der Route, die ich in der vergangenen Woche noch mit der Fähre gefahren bin, durch den finnischen Meerbusen vorbei an Gotland, Öland und Bornholm. Auf meinem Handy ist noch ein Foto von diesem Streckenverlauf, der hin und wieder auf dem Werbe- und Infokanal vom Finnlines-Starclub eingeblendet wurde und den ich von dem Fernseher in meiner Kabine abfotografiert habe. Ich denke darüber nach, wie es gewesen wäre, wäre ich wie geplant erst um diese Zeit wieder abgereist, wären die Züge voller gewesen, hätte die Fähre überhaupt auslaufen dürfen? Ich stelle auch fest, dass Abgeschiedenheit eine fluide Angelegenheit ist; egal wie weit der nächste Supermarkt entfernt ist, das Zeitgeschehen rückt trotzdem manchmal näher als erwartet, und ich habe es nun doch verpasst wegen anderer Termine. Ob das gut oder schlecht ist, kann ich nicht sagen. Ich verfolge es weiter durch mein Smartphone, höre den Regen auf dem Dach der Ferienhütte, sehne mich nach Schnee.

Ylenia / Zeynep / Antonia (verschiedene Sturmnotizen)

Warum sich das Konzept Sturmtief / Orkantief wegen seines gehäuften Auftretens abnutzen könnte, das aber (zumindest aus meiner Perspektive) nicht tut: Immerhin können wir neben wie Streichhölzern abgeknickten Bäumen, Purzelbäume schlagenden Riesentrampolinen und wandernden Dixieklos auch beobachten, wie die Namensgebung für heraufziehende Extremwettererscheinungen vom Ende des Alphabets wieder zum Anfang springen. Hoffentlich denke ich an diese Notiz, wenn wir das nächste Mal einen Sturm mit Z oder A haben (aufgrund der hohen Frequenz rechne ich damit ca. Ende Juni).

These: Ylenia und Zeynep haben schon alles mitgenommen, was sich seit Xandra am 29.1. gelockert hat. Was bleibt da noch für Antonia?

To Do: Für jede Art von Niederschlag die richtige ASCII-Zeichenkombination finden

Spring Break

Tage wie reduzierte Avocados aus dem Supermarkt: Schon bei der allerersten Hunderunde um kurz nach 7 trage ich nur meine Jeansjacke und darf auf keinen Fall darüber nachdenken, welche ökologischen Missstände das möglich gemacht haben. Spätestens ab 12 Uhr sind einfach ALLE draußen. Die Mittagsrunde durch den Park ist ein einziges Kaffeekränzchen. Ich treffe zufällig und unabhängig voneinander drei bekannte Menschen und zwei bekannte Hunde. Verschämt tauschen wir uns über das schlechte Gewissen aus, das wir haben, während wir diesen Scheinfrühling genießen. Im Hintergrund ist das Wummern der (zurecht!) meistgehassten Baustelle der Stadt zu hören. Hier werden Stahlsäulen in den Boden geklopft, 6 Tage die Woche, von morgens bis abends. Ein anderer Hundebesitzer hat mir erzählt, dass sie von diesen Säulen zwei Stück am Tag schaffen und so viele davon unter die Erde bringen müssen, dass sie noch ungefähr ein Jahr für diesen Arbeitsschritt brauchen werden. Der Park ist knapp zwei Kilometer von der Baustelle entfernt und das Wummern ist deutlich zu hören; ich höre es auch in meiner Wohnung, die eineinhalb Kilometer von dort entfernt ist, ich weiß von Leuten, die noch weiter weg wohnen und das Wummern bei geschlossenem Fenster hören. Gestern habe ich es sogar gehört, als ich am anderen Ende der Stadt unterwegs war. Vielleicht habe ich mir das auch eingebildet, oder es war eine andere Baustelle, oder es hat sich jetzt schon so festgesetzt, dass es sich nie mehr aus meinem Gehörgang herauswinden wird. Es klingt, als würde der Kapitalismus nun endlich sein Industrial-Album aufnehmen. In meinem Kopf entspinnen sich wilde Verschwörungstheorien darüber, dass das gute Wetter von Möbel Höffner höchst persönlich bestellt wurde, um unsere Gemüter zu beruhigen: Sehen Sie, auch wenn wir beim Bau unseres völlig überflüssigen Möbelhauses nicht nur gegen Umweltauflagen verstoßen haben, sondern auch noch die ganze Stadt mit Lärm terrorisieren (der vermutlich ebenfalls nicht auflagengerecht ist), lebt es sich hier doch ganz vorzüglich, sobald die Sonne scheint! Was haben Sie denn? Es sind gefälschte Frühlingstage wie heute, die mich die Apokalypse regelrecht herbeisehnen lassen. Dann ist es wenigstens still. Nur schade wärs um die zufälligen Begegnungen im Park, die dann ausfallen.

Symmetrische Schwankungen

Dieses frühes-21.-Jahrhundert-Lebensgefühl: Jeder richtige Winter könnte der letzte richtige Winter gewesen sein. Ich verkomme zur Wetternostalgikerin, aber bei symmetrischen Temperaturschwankungen vom Minus- in den Plusbereich auf dem Thermometer ab 10 Grad Celsius komme ich einfach nicht hinterher. Ist Mitte/Ende Februar nicht eigentlich viel zu früh für Frühlingstemperaturen? Ich mag mir kaum vorstellen, wie viel von dem, was jetzt austreiben könnte, durch die mittlerweile zum Standard mutierte Kältewelle zu Ostern wieder zerstört wird.

Die Straßen draußen tun derweil so, als sei nichts gewesen, keine Spuren mehr von dem Schnee der letzten Woche, von einem ganz vermatschten Haufen in einer schattigen Ecke abgesehen. Ich will seit einigen Tagen einen Artikel über den Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und der Corona-Pandemie suchen, den ich vergessen habe zu speichern, habe aber eigentlich zu viel Angst davor, ihn zu lesen. Stattdessen schaue ich bei YouTube Haarschneide-Tutorials für Frisuren, die ich mir niemals schneiden werde, und google zum Spaß Bilder von Yaks und Galloway-Rindern. Angeblich machen im März die Friseure wieder auf, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, einen aufzusuchen. Eigentlich fühlt sich Wildwuchs bis zum Ende der Pandemie an wie das einzige richtige Konzept, und wenn die eines Tages vorbei sein sollte, haben wir immer noch genug andere Krisen, gegen die sich haariger Wildwuchs irgendwie schützend anfühlen wird. Ich verzichte auf das Gefühl von Frühlingsluft in meinen Haaren, weil ich mir ohne Mütze unvollständig vorkomme, obwohl sich der Winterkokon jetzt schon viel zu warm anfühlt.

Kältewelle

Es war kalt in den letzten Tagen, so kalt, dass ich Maßnahmen ergriffen habe, zu denen es in den letzten Jahren selten gekommen ist: Zwiebellook an den Beinen (keine langen Unterhosen jedoch, nur normale Leggings unter der äußeren Hose). Es ist gar nicht so unbequem, wie ich es mir vorstelle, wenn ich darüber nachdenke, ob es wirklich schon kalt genug für solche Sperenzchen ist. Auf einer der zahllosen Hunderunden, die noch immer meinen Alltag in Arbeitsphasenkonfekt portionieren (wann wird der Hund endlich stubenrein? Oder ich weniger paranoid?), habe ich festgestellt, dass ich diese beißende Kälte gar nicht so übel finde. Im Gegenteil, sie beruhigt mich sogar (oder es ist mein Körper, der schon alles herunterfährt, damit er sich darauf konzentrieren kann, nicht zu erfrieren). Es ist Februar 2021, und selbst in der Krisenhaftigkeit unserer Gegenwart gibt es ein Draußen, das ungefähr so ist, wie es sich gehört. Ein klirrend kalter Winter wie aus meiner Kindheit, es gibt Schnee, sämtliche Gewässer sind gefroren, die Wohnung voller Streusand. Nach der Lektüre von Karen Duves „Macht“, das 2031 spielt und in dessen erzählter Welt es brütend heiß und das große Finale der Klimakatastrophe nur noch etwa 5 Jahre entfernt ist, wegen dem ich nächtelang Albträume hatte, fühlte er sich an wie eines dieser wabbeligen blauen Kühlkissen auf einem Wespenstich (der mit einer halben Zwiebel viel besser verarztet wäre). Während ich mich bei Instagram durch unzählige Rodel- und Schlittschuhstories wische, bleibe ich an einem Video von Quarks hängen, von dem ich lerne: Die Kälte ist dem Polarwirbel geschuldet, dem wegen der Erderwärmung die Kraft ausgeht und der deswegen die kalte Polarluft nicht mehr gut dort festhalten kann, wo sie eigentlich bleiben sollte: Am Nordpol. Ich bin mehr als bekümmert, als ich das lese. Eigentlich sehne ich mich nach keinem Ort auf der Erde so sehr wie nach dem Nordpol, aber ich habe mich damit abgefunden, dass ich dort vermutlich niemals einen Fuß hinsetzen werde. Vorletzten Sommer bin ich bloß bis nach Gävle gekommen, was immer noch fast 900 km vom Polarkreis entfernt ist. Für eine Reise zum Nordpol habe ich insgesamt den falschen Weg eingeschlagen. Auf Forschungsschiffen brauchen sie keine, die sehnsüchtig auf Eisberge starrt und anschließend schwülstige Abhandlungen über deren dramatisches Abschmelzen schreibt. Nordpoltourismus kommt mir zur Zeit äußerst unethisch vor und außerdem fehlt mir dafür das Geld. Bis ich es zusammenhabe, sind die Polkappen abgeschmolzen und wer weiß, ob normales Geld dann überhaupt noch etwas nützt. In den nächsten Tagen soll es wieder Plusgrade geben, zum Wochenende hin sogar zweistellig. Ich werde die Polarluft vermissen, auch wenn sie ein vergiftetes beziehungsweise gar kein Geschenk war, und den anstehenden Matsch verfluchen, der in der Wohnung zu Sand zerfallen wird, immerhin ein bisschen feinkörniger als der Streusand unter meinen Schuhsohlen.

Verpasste Wetterereignisse

Montag, 30.3.2020

In Kiel gab es in den letzten 36 Stunden eine Sturmflut und Schnee und ich habe beides verpasst beziehungsweise nur bei Instagram gesehen, als es längst vorbei war. Unglaublich, dass eigentlich gar nichts passieren kann, weil es ja kein öffentliches Leben etc. mehr gibt und dann grätschen einem da Wetterereignisse rein. Für den Schnee hätte ich vermutlich einfach nur zwei, drei Stunden früher aufstehen müssen. Dafür habe ich ausgeschlafen (an einem Montag!), dann im Schlafanzug die Küche aufgeräumt und nun sitze ich im Disco-Outfit am Schreibtisch und mache: Nichts.

Die Kneipe auf der anderen Straßenseite, die seit bestimmt 10 Jahren leer steht, hat dafür jetzt ihre Fenster gegen zwei große Spanplatten ausgetauscht bekommen. Als hätte es hinter den alten Fenstern noch irgendwas gegeben, was in den anarchistischen Zuständen, auf die wir uns eventuell vorbereiten müssen (habe ich im vorbeiscrollen irgendwo gelesen, finde die Quelle aber nicht wieder – wer weiß, ob ich das überhaupt will, ich meine mich nämlich zu erinnern, dass Horst Seehofer das gesagt hat), jemand ausplündern könnte. Ansonsten passiert draußen: Nichts.

(Es muss deutlich kälter draußen sein als gestern.)

Blaue Stunde um 18:05 Uhr

Der Punkt, an dem die Sonne gerade untergegangen, aber die Nachtdunkelheit noch nicht am Platz ist, befindet sich heute jenseits des magischen 18-Uhr-Punktes. Ich schaue schon seit Stunden aus dem Fenster und kann noch immer Menschen auf der Straße erkennen. Gestern habe ich kurz hinter dem weitesten Punkt, den ich von meinem Fenster aus sehen kann, eine tote Fledermaus auf dem Fußweg gefunden, aber weil ich nichts für meine Finger dabei hatte, habe ich sie dort einfach liegen lassen. Ich hoffe, sie wurde in der Zwischenzeit weggeräumt. Draußen schwinden die Kontraste, sodass man sie jetzt (18:10 Uhr) vermutlich nicht mehr allzu gut erkennt. Nur noch vier Wochen und die Fledermäuse erwachen aus ihrem Winterschlaf. Vielleicht traue ich mich morgen, die Nachrichten zu lesen.

Winteraggressionen

Ich habe das Pech, zu den Leuten zu gehören, die sich ihre Anorakkapuze erst vollhageln lassen und sie dann aufsetzen. So geschehen, als die gute Sturmtief-Sabine heute zu ihrem zweiten, dritten oder vierten Anlauf ausgeholt hat. Von weitem ist sie beeindruckend schön mit den Wellen, die sie auf den Pfützen auf der großen Kreuzung vor meinem Fenster schlägt, aus der Nähe leider furchteinflößend bis ungenießbar. Sorgfältig ist sie ebenfalls. Das Wasser, das sie für unsere Gesichter und unsere regenhosenlosen Beine vorgesehen hat, bewahrt sie im Kühlschrank auf, damit es nicht schlecht wird. Zur Selbstsabotage neigenden Menschen wie mir nützt es freilich nichts, einfach nicht rauszugehen, damit so etwas wie das Kapuzendebakel nicht passiert. Drinnen realisiere ich schlechte Ideen wie z.B. den „Alles gesagt?“-Podcast mit Christian Lindner hören, um herauszufinden, wie übel FDP-Politiker eigentlich wirklich sind (Spoiler: sehr). Es ist schwierig bis unmöglich, unter diesen Umständen keine Winteraggressionen zu entwickeln.