Die geheime Herrschaft der Pflanzen

Die Sonne ist schon längst untergegangen, als ich den unstillbaren Drang verspüre, dunklen Lippenstift aufzutragen und meine Pflanzen umzutopfen. In meinem Schlafzimmer liegt schon seit August ein ungeöffneter Sack Blumenerde, den ich nun endlich nach draußen auf den Balkon schleppe. Während ich im Schein meines kabellosen Baustrahlers zwei nicht mehr ganz so kleine, aus Supermarktzitronenkernen gezogene Zitronenbäumchen, eine sehr expansionsfreudige Buntnessel und eine ebenso ambitionierte Spuckpalme von alter Erde befreie und in größere Gefäße umsiedele, denke ich darüber nach, wieso ich es zwei Monate lang nicht einmal geschafft habe, die Erde aus meinem Schlafzimmer wenigstens auf den Balkon umzulagern, aber jetzt, um kurz vor 22 Uhr, unbedingt noch einmal alles umgraben muss. Welche Mondphase haben wir? Der Vollmond kann es nicht sein, dazu habe ich in den letzten Nächten zu gut geschlafen, aber der Himmel ist leider zu bewölkt, um das nachprüfen zu können. Vielleicht lade ich mir später eine Mondkalender-App herunter. Oder ich lege mir ein Grimoire an, in dem ich regelmäßig notiere, welche Pflanze mir wann welche Handlungen befielt. Denn, so schwant mir schon länger: Die Kontrolle über den Wildwuchs in meiner Wohnung habe ich schon lange verloren, aber vielleicht habe ich noch eine Chance, wenigstens seinen Zyklus zu durchschauen.

Spontanvegetation

Ich öffne dieses Textdokument, weil ich eigentlich wieder einmal meinem Unbehagen gegenüber WURZELN Ausdruck verleihen wollte, aber noch während ich die notwendigen Klicks mache, fällt mir auf, dass SAMEN eigentlich mindestens genauso unaufhaltsam in ihrer Verbreitung sind. Vor ein paar Monaten habe ich ein Bananenpflanzenkind von seiner Mutter getrennt und in einen eigenen Topf gepflanzt. Einige Wochen nach dieser Umtopfaktion bemerkte ich, dass in diesem Topf Unkraut wuchs, oder Spontanvegetation, wie der gärtnerisch korrekte Ausdruck lautet. Ich war erstaunt, der Blumentopf stand schließlich drinnen, es war Februar, das Gewächs konnte eigentlich gar nicht existieren, also unternahm ich nichts, teils aus Neugier, teils aus Faulheit.

In besagtem Blumentopf befinden sich nun eine eher kleine Bananenpflanze, deren Blätter an manchen Stellen schon ein bisschen bräunlich sind, und eine knapp 70 cm hohe Kornblume, die sich bester Gesundheit erfreut. Ich weiß nicht, wie üblich es ist, Kornblumen als Topflanzen zu haben, finde es aber eigentlich ganz hübsch. Vermutlich wird es auch nicht die letzte Kornblume sein, die den Weg in mein Wohnzimmer findet, denn wie ich gestern feststellen musste, stand der Sack mit der Blumenerde den ganzen Winter über offen auf dem Balkon unter einem Hängetopf mit verblühten Kornblumen, die ich aus Faulheit nie entsorgt habe. Ich denke, die Verbreitungskette ist hiermit zumindest geklärt.

Samstag, 28.3.2020

Es gibt dieser Tage nur noch zwei Gemütszustände: Der, in dem ich hart dagegen arbeiten muss, mich von der Dramatik der aktuellen Lage vollständig auffressen zu lassen, und der, in dem ich mich über die Absurdität dieser neuen Gegenart einfach nur wundern kann. Eigentlich wollte ich jeden Tag in der letzten Woche das aufschreiben, was ich von meinem Fenster aus sehe, aber ich bin schon permanent mit schreiben beschäftigt (Bilanz der vergangenen Woche: Ein Förderantrag für eine Lesung, von der ich noch gar nicht weiß, ob sie stattfinden wird, ein begonnener fiktiver Briefwechsel mit einem Lesebühnenkumpel bzw. seinem Alter Ego und ca. eine Million Wörter in verschiedenen Chatprogrammen), sodass ich für das hier gar keine Zeit hatte. Oder ich hatte Angst vor dem, was ich vielleicht hätte aufschreiben müssen. Ich muss nun noch mehr darauf achten, meinen Koffeinkonsum so gering wie möglich zu halten. Normalerweise gibt es zwei Einheiten Koffein am Tag, von weniger bekomme ich Kopfschmerzen und von mehr werde ich größenwahnsinnig, aber aktuell ist die zweite und manchmal auch schon die erste Einheit eine flüssige Panikattacke. Nun gut. Bleiben wir also bei Kräutertee.

Das sonnige Wetter verwandelt meine Ostfensterbänke in Gewächshäuser, was mich zu einer meiner absurdesten neuen Alltagssorgen führt: ALLES wächst viel zu schnell und ich habe zwar genug Erde, aber nicht genug Blumentöpfe, um die Pilea-Ableger und die Tomaten- und Chili- Keimlinge einzupflanzen oder die Spuckpalmen umzutopfen. Die Wurzeln in den Anzuchttabs und dem Wasserglas mit den Ablegern sind jetzt schon viel zu lang, aber ich will nicht in den Baumarkt, ich weiß nicht einmal, ob der noch geöffnet ist, aber andererseits sehe ich aus meinem Schreibtischfenster so viele Menschen mit Holzlatten unter den Armen an der Kreuzung stehen. Vermutlich wäre bei Bauhaus also doch was zu holen, aber ich will eigentlich gar nicht da hin, so viele Heimwerker*innen, wie sie jetzt gerade auf der Straße unterwegs sind, muss da ja die Hölle los sein, oder verschenken sie irgendwo Kantholz auf der Straße? Ich werde es wohl nicht herausfinden.

Gestern bin ich zweimal durch den Park gelaufen, um den oben erwähnten Förderantrag loszuwerden. Am Kiosk gegenüber dem Hundefreilauf kann man jetzt telefonisch Pommes und Eis bestellen und wird per Lautsprecher ausgerufen, wenn die Bestellung abholbereit ist. Obwohl eigentlich höchstens 12 Grad in der Sonne waren, saßen Menschen mit Picknickdecken auf der Wiese, mit Kaffee in Thermoskannen und vorbildlichem Sicherheitsabstand. In dem leeren Planschbecken für Kinder tanzte ein älteres Paar Walzer ohne Musik (ich nehme an, dass sie zusammengehören). Heute war ich eine Runde mit dem Rad unterwegs und sah sogar Menschen, die auf Picknickdecken lagen (Der Rücken! Bei der Kälte!). Ich hoffe, dass es wenigstens ein bisschen so bleiben kann wie gestern und heute, aber morgen soll es schneien, auch wenn ich mir das kaum vorstellen kann.

Samstag, 14.03.2020

Ich bin seit einer Woche hin- und hergerissen, ob ich irgendwas über die Corona-Pandemie schreiben möchte oder nicht, aber seit ich in meiner Twitter-Timeline minutenlang herunterscrollen muss, um auch nur einen Tweet zu finden, der damit nichts zu tun hat, habe ich mich mehr oder weniger dagegen entschieden. Nur so viel: Die Stadt Kiel hat alle öffentlichen Veranstaltungen bis zum 19. April abgesagt, womit auch ein Großteil meines Alltags bis auf Weiteres gecancelt ist. Denn was mache ich außerhalb dieser goldenen Stunden, in denen ich mich zuhause der Muße hingeben kann? Ich gehe einer Lohnarbeit im öffentliche-Kulturveranstaltungen-Sektor nach, organisiere nebenbei auch noch Lesungen oder besuche Freund*innen, die so etwas beruflich oder ehrenamtlich machen, bei ihren Veranstaltungen. Und noch eine Sache: Einen ganzen Arbeitstag lang sich stündlich ändernde Auflagen und Entwicklungen mit den Kolleg*innen besprechen und entsprechende Beschlüsse an die Aushilfen und an die Öffentlichkeit zu kommunizieren, um dann 30 Sekunden vor Feierabend mitgeteilt zu bekommen, dass jetzt erst einmal alles ausfällt und dementsprechend noch einmal alle Kommunikationsakte von vorne anfangen zu müssen, ist furchtbar viel Arbeit. Das war jetzt doch ein ganzer Absatz. Puh! Ich bin übrigens normalerweise die letzte, die Digital Detox für eine tolle achtsame Idee hält (überhaupt: Warum Achtsamkeit, wenn man auch Slacker*in sein kann?), aber wenn ich noch ein Foto von leeren Klopapier- oder Nudelregalen sehe, breche ich zusammen. Der gesamte Social-Media-Kram* ist jetzt für so lange von meinem Handy geflogen, bis Montag Mittag der nächste Corona-Update-Podcast mit Christian Drosten online kommt. Das übrige Wochenende werde ich damit verbringen, meine neu umgetopften Pflanzen beim Wachsen zu beobachten. Der einzige Hamsterkauf, den ich getätigt habe, ist Blumenerde. Aber die Chilis und Tomaten, die ich erst letzte Woche zum Keimen auf Kokoserde gesetzt habe, wachsen erschreckend schnell! Vielleicht müssen sie nächste Woche schon umgepflanzt werden. Allerdings habe ich keine freien Blumentöpfe mehr. Und eigentlich sind meine Fensterbänke auch schon voll. Ein furchtbares Problem. Aber dieses grüne Kreuz trage ich mit Würde.

*Falls ihr mit mir Kontakt aufnehmen wollt: Sämtliche Messenger-Apps sind natürlich noch drauf und meine E-Mails lese ich natürlich auch! Ich gehe sogar ans Telefon, wenn ihr wirklich die Chuzpe habt, mich anzurufen wie so ein Neandertaler.