Seit heute haben wir März, aber ich bin eigentlich noch zu müde für den Frühling. Ich muss vor ein paar Tagen in Berlin in eine Zeitschleife getreten sein. Wahrscheinlich in einer U-Bahn-Station, wahrscheinlich in der U2, beziehungsweise dann, als ich aus der U2 ausgestiegen bin, weil ich dachte, ich wäre in die falsche Richtung unterwegs, dann tatsächlich eine Station in die falsche Richtung gefahren bin und noch einmal aussteigen musste, um dann endlich in die richtige Richtung zum Kino International zu fahren und NACKTE TIERE zu sehen – einer der Filme, von denen ich schon mit 17, 18 geträumt habe. Irgendwo dort muss sich die Zeitschleife um mein Bein gewickelt haben. Es ist sehr anstrengend, sich damit durch die Gegenwart zu bewegen. Und höllisch aufpassen musste ich, mich damit nicht in den E-Scootern zu verfangen, die in Berlin tatsächlich ziemlich unordentlich auf der Straße herumliegen (ich hatte bereits davon gehört, aber geglaubt, dass sich das nur wieder irgendwelche Leute aus dem Internet ausgedacht haben. Ich bin wieder einmal zu naiv für diese Welt). Mit meinen zwei Berliner Cousins, zu denen ich es immerhin geschafft habe, bin ich mir einig, dass wir von 2020 mehr erwartet hätten. Statt Jetpacks gibt es strombetriebene Roller, von denen niemand weiß, wo er*sie sie abstellen soll. Aber immerhin: ein modernes Mobilitätskonzept.
Mit dieser Zeitschleife um den Knöchel schleppte ich mich also durch die Berlinale und beobachtete im Vorbeiziehen die tragischen Fälle, die sich an bestimmten Zeitpunkten in der Vergangenheit verfangen hatten, dort mit Sicherheit nicht mehr wegkommen würden und sich bereits in obskure Fossilien verwandelt hatten. Eines davon saß seit Jahrzehnten im selben Kinosessel und erklärte vornehmlich jüngeren Kinobesucherinnen, die sich zufällig neben es setzten, wie bestimmte Filme funktionierten. Es hatte eine beeindruckende Treffsicherheit dabei, Filme auszuwählen, die die Sitznachbarin schon kannte, und trug gleichzeitig eine tollkühne Ignoranz gegenüber allem, was sie zu sagen hatte, in sich. Ein anderes verirrte sich in eine Vorstellung von THE ASSISTANT und stellte eine Frage, an deren Inhalt ich mich jetzt nicht mehr erinnere, die allerdings die Formulierung „Rape, wether it’s consensual or not“ enthielt. Ihre Zeit ist abgelaufen, und das völlig zurecht.
Das, was von meinem Zeitgefühl nach der Sache mit der Schleife noch vorhanden war, wurde am Dienstag auf einem offiziellen Empfang in Weißwein und später bei einem inoffiziellen in Gin mit Rosmarin (Gin-Ofenkartoffel, wie ich es nennen würde) aufgelöst. Spät nachts standen wir wieder auf dem Balkon gegenüber dem einen großen Kino, dessen Schriftzug längst ausgeschaltet war. So konnte ich nicht sehen, welche Buchstaben diesmal fehlten. Ich musste einen Nachtbus zu meiner Unterkunft nehmen. Es war schon fast drei, es war dunkel, es regnete, ich fiel beinahe über den E-Scooter, der kurz vor der Haustür halb in einem Gebüsch lag, aber ich fühlte mich sicher. Umso größer der Schock, als ich am nächsten Tag Twitter öffnete und etwas von der Notwendigkeit von Hamsterkäufen wegen Corona in Berlin las. Ich lebte seit Tagen nur im Kino, was hatte ich verpasst, war ich in Gefahr? Ich las lieber nicht weiter.
Mit der Zeitschleife um den Fuß stolperte ich kurz nach meinem Berlinale-Besuch ins genaue Gegenteil: Ein Metal-Konzert in Elmshorn. Kein Glamour, kein Roter Teppich, dafür ein einsturzgefährdetes Gebäude und sämtliche Wiedergänger meiner Jugend. Lange Haare, Kutten, schnelle Gitarren; ich trug schwere Stiefel und zu viel dunkle Schminke um die Augen und hoffte auf der Bühne auf ein positives Feedback von meinem 16-jährigen Ich, das allerdings mit einem Waschbären in Nietenjacke flirtete und ihn morgen bei SchülerVZ gruscheln würde. Morgen muss ich wieder zurück in die Gegenwart und mit ihrem Tempo Schritt halten. Ich weiß nur leider nicht, wie das funktionieren soll. Ich bin jetzt schon zu müde dafür.