Mein Leben als Blob (1)

„Hast du schon gesehen, dass du das Aussehen deines Avatars ändern kannst?“ Das habe ich schon bei meinem ersten Besuch im Museum of Other Realities, aber ich verstehe erst jetzt, wie es funktioniert. Und so stehe ich vor einem Spiegel, links und rechts neben mir liegen verschiedene geometrische Figuren, die ich anprobieren und deren Größe und Farbe ich verändern kann. Dazu gibt es einige Hebel und zwei Farbspektren, eines für den Grundton, ein weiteres für das andersfarbige Highlight, das hier mein Gesicht ersetzt. Und so probiere ich mich durch die Figuren, von Trapezen über Rhomben hin zu Formen, für die ich in der Schule keinen passenden geometrischen Ausdruck gelernt habe. Zwischendurch bemerke ich, dass M. den Raum betreten haben muss, vielleicht schon vor einer ganzen Weile. 
„Guck mal, wie ich aussehe“, sage ich. 
„Ja“, antwortet M., „Ich seh schon.“ 
„Ich weiß nicht, das passt irgendwie nicht“, länglich und kirschrot mit einem tropfenförmigen Kopf drehe ich mich vor dem Spiegel. „Ich versuch nochmal was anderes, das passt doch gar nicht zu mir.“
„Ich lass dich mal“, sagt M. und geht.
Ich betätige die Hebel noch einige Male und lange schließlich in einer Form, die mir zusagt: Drei gestapelte Donuts, der in der Mitte ein bisschen dicker als die übrigen, darauf ein runder Kopf. Mein neuer Körper bekommt eine schlumpfenblaue Oberfläche und ein zitronengelbes Gesicht. 

Die Gruppe, mit der ich am Eingang verabredet bin, ist noch nicht da, also übe ich noch ein wenig meine neuen Fortbewegungsmöglichkeiten: Ich kann mich teleportieren, langsam und ein wenig schneller schweben. Ich soll auch meine Größe verändern können, was dazu dient, die Exponate im Museum aus einer anderen Perspektive betrachten zu können, aber ich habe noch nicht raus, wie das funktioniert. Immerhin weiß ich schon, was passiert, wenn ich mich verlaufen habe oder irgendwo hängen geblieben bin: Einfach den Teleporter auf die Decke richten und ich lande wieder im Eingangsbereich. Dort tauchen nun nach und nach die anderen aus der Gruppe auf: Ein blaues Trapez, eine konische Figur in Magenta und noch eine Stapelfigur, allerdings in Gelb. Ein orangefarbener Tropfen mit einem Würfel als Kopf winkt mir zu und lädt mich ein, mich der Gruppe anzuschließen. 
„Hörst du uns?“, fragt der Tropfen.
Ich nicke und versuche, mit meinen blockförmigen Händen ein Daumen-Hoch-Zeichen zu machen. Die anderen scheinen mich zu verstehen. 
„Dann geht es jetzt los!“, sagt der Tropfen und deutet auf ein hellgraues Rechteck an der Wand, das ein Tor zu sein scheint. „Wir gehen erstmal hier lang.“ 
Die anderen teleportieren sich durch das Tor, was bei mir nicht funktioniert. Der Teleporter zeigt mir ein rotes X, als ich auf das graue Rechteck zeige. Ich versuche also die Schwebefunktion. Als ich das Rechteck erreiche, wird alles um mich herum erst dunkel, dann bunt. Dann stürze ich ins Nichts.

Samstag, 14.03.2020

Ich bin seit einer Woche hin- und hergerissen, ob ich irgendwas über die Corona-Pandemie schreiben möchte oder nicht, aber seit ich in meiner Twitter-Timeline minutenlang herunterscrollen muss, um auch nur einen Tweet zu finden, der damit nichts zu tun hat, habe ich mich mehr oder weniger dagegen entschieden. Nur so viel: Die Stadt Kiel hat alle öffentlichen Veranstaltungen bis zum 19. April abgesagt, womit auch ein Großteil meines Alltags bis auf Weiteres gecancelt ist. Denn was mache ich außerhalb dieser goldenen Stunden, in denen ich mich zuhause der Muße hingeben kann? Ich gehe einer Lohnarbeit im öffentliche-Kulturveranstaltungen-Sektor nach, organisiere nebenbei auch noch Lesungen oder besuche Freund*innen, die so etwas beruflich oder ehrenamtlich machen, bei ihren Veranstaltungen. Und noch eine Sache: Einen ganzen Arbeitstag lang sich stündlich ändernde Auflagen und Entwicklungen mit den Kolleg*innen besprechen und entsprechende Beschlüsse an die Aushilfen und an die Öffentlichkeit zu kommunizieren, um dann 30 Sekunden vor Feierabend mitgeteilt zu bekommen, dass jetzt erst einmal alles ausfällt und dementsprechend noch einmal alle Kommunikationsakte von vorne anfangen zu müssen, ist furchtbar viel Arbeit. Das war jetzt doch ein ganzer Absatz. Puh! Ich bin übrigens normalerweise die letzte, die Digital Detox für eine tolle achtsame Idee hält (überhaupt: Warum Achtsamkeit, wenn man auch Slacker*in sein kann?), aber wenn ich noch ein Foto von leeren Klopapier- oder Nudelregalen sehe, breche ich zusammen. Der gesamte Social-Media-Kram* ist jetzt für so lange von meinem Handy geflogen, bis Montag Mittag der nächste Corona-Update-Podcast mit Christian Drosten online kommt. Das übrige Wochenende werde ich damit verbringen, meine neu umgetopften Pflanzen beim Wachsen zu beobachten. Der einzige Hamsterkauf, den ich getätigt habe, ist Blumenerde. Aber die Chilis und Tomaten, die ich erst letzte Woche zum Keimen auf Kokoserde gesetzt habe, wachsen erschreckend schnell! Vielleicht müssen sie nächste Woche schon umgepflanzt werden. Allerdings habe ich keine freien Blumentöpfe mehr. Und eigentlich sind meine Fensterbänke auch schon voll. Ein furchtbares Problem. Aber dieses grüne Kreuz trage ich mit Würde.

*Falls ihr mit mir Kontakt aufnehmen wollt: Sämtliche Messenger-Apps sind natürlich noch drauf und meine E-Mails lese ich natürlich auch! Ich gehe sogar ans Telefon, wenn ihr wirklich die Chuzpe habt, mich anzurufen wie so ein Neandertaler.

Der beste Montag aller Zeiten

Es ist Montag, der 9. März, 09:42 MESZ. Heute sollen unsere Fenster eingestellt werden. „Bitte seien sie ab 08:00 Uhr Vorort“ steht auf der entsprechenden Ankündigung im Treppenhaus. Ja, Vorort. Ich verhalte mich also wie ein Stückchen Speckgürtel und mache: nichts. Anders geht es auch gar nicht, weil ich die Pflanzen von meiner Fensterbank auf meinen Schreibtisch umlagern musste. Normalerweise hätte ich an diesem Schreibtisch schon vor ca. 30 Minuten meine Wochenplanung erledigt und wäre dann zur Lohnarbeit geradelt. Stattdessen sitze ich nun in meinem Ohrensessel, begutachte die Pflanzen, die ich auf den Sofatisch gestellt habe, und genieße meine Zeit als Privatière. Das Klappern im Treppenhaus sind hoffentlich keine Menschen mit Werkzeugkästen.

Ein Gletscher als Haustier

Der Tag beginnt mit einer der nervenaufreibendsten Aufgaben, die man als Kino-Mitarbeiter*in haben kann: Die Eislieferung möglichst schnell und gleichzeitig möglichst platzsparend in die Eistruhe verstauen, in der es grundsätzlich zu wenig Platz gibt und in der widerspenstiges, erratisch auftretendes Packeis den Weg zum Geheimfach für die Extrapackung Eiskonfekt versperrt. Als ich mit meiner Gewalt am Ende bin, rückt der Kollege dem Gletscher mit einem Theatermesser und einem Hammer zu Leibe. Wir domestizieren den Gletscher in unserem Büro-Waschbecken und schließen Wetten darauf ab, wann er vollständig geschmolzen sein wird. Ich setze auf einen sehr kurzen Zeitraum und verliere. Diese Fehleinschätzung liegt in dem begründet, was ich schon seit meiner Liza-Simpson-Jugend über Gletscher/Polkappen weiß und was Gottseidank mittlerweile eine weitere, wenn auch immer noch nicht ausreichende Verbreitung gefunden hat: Gletscher schmelzen heutzutage deutlich schneller als Menschen zu der Erkenntnis kommen, dass dies tatsächlich ein Problem für sie oder andere werden könnte.

Zeit schleifen

Seit heute haben wir März, aber ich bin eigentlich noch zu müde für den Frühling. Ich muss vor ein paar Tagen in Berlin in eine Zeitschleife getreten sein. Wahrscheinlich in einer U-Bahn-Station, wahrscheinlich in der U2, beziehungsweise dann, als ich aus der U2 ausgestiegen bin, weil ich dachte, ich wäre in die falsche Richtung unterwegs, dann tatsächlich eine Station in die falsche Richtung gefahren bin und noch einmal aussteigen musste, um dann endlich in die richtige Richtung zum Kino International zu fahren und NACKTE TIERE zu sehen – einer der Filme, von denen ich schon mit 17, 18 geträumt habe. Irgendwo dort muss sich die Zeitschleife um mein Bein gewickelt haben. Es ist sehr anstrengend, sich damit durch die Gegenwart zu bewegen. Und höllisch aufpassen musste ich, mich damit nicht in den E-Scootern zu verfangen, die in Berlin tatsächlich ziemlich unordentlich auf der Straße herumliegen (ich hatte bereits davon gehört, aber geglaubt, dass sich das nur wieder irgendwelche Leute aus dem Internet ausgedacht haben. Ich bin wieder einmal zu naiv für diese Welt). Mit meinen zwei Berliner Cousins, zu denen ich es immerhin geschafft habe, bin ich mir einig, dass wir von 2020 mehr erwartet hätten. Statt Jetpacks gibt es strombetriebene Roller, von denen niemand weiß, wo er*sie sie abstellen soll. Aber immerhin: ein modernes Mobilitätskonzept.

Mit dieser Zeitschleife um den Knöchel schleppte ich mich also durch die Berlinale und beobachtete im Vorbeiziehen die tragischen Fälle, die sich an bestimmten Zeitpunkten in der Vergangenheit verfangen hatten, dort mit Sicherheit nicht mehr wegkommen würden und sich bereits in obskure Fossilien verwandelt hatten. Eines davon saß seit Jahrzehnten im selben Kinosessel und erklärte vornehmlich jüngeren Kinobesucherinnen, die sich zufällig neben es setzten, wie bestimmte Filme funktionierten. Es hatte eine beeindruckende Treffsicherheit dabei, Filme auszuwählen, die die Sitznachbarin schon kannte, und trug gleichzeitig eine tollkühne Ignoranz gegenüber allem, was sie zu sagen hatte, in sich. Ein anderes verirrte sich in eine Vorstellung von THE ASSISTANT und stellte eine Frage, an deren Inhalt ich mich jetzt nicht mehr erinnere, die allerdings die Formulierung „Rape, wether it’s consensual or not“ enthielt. Ihre Zeit ist abgelaufen, und das völlig zurecht.

Das, was von meinem Zeitgefühl nach der Sache mit der Schleife noch vorhanden war, wurde am Dienstag auf einem offiziellen Empfang in Weißwein und später bei einem inoffiziellen in Gin mit Rosmarin (Gin-Ofenkartoffel, wie ich es nennen würde) aufgelöst. Spät nachts standen wir wieder auf dem Balkon gegenüber dem einen großen Kino, dessen Schriftzug längst ausgeschaltet war. So konnte ich nicht sehen, welche Buchstaben diesmal fehlten. Ich musste einen Nachtbus zu meiner Unterkunft nehmen. Es war schon fast drei, es war dunkel, es regnete, ich fiel beinahe über den E-Scooter, der kurz vor der Haustür halb in einem Gebüsch lag, aber ich fühlte mich sicher. Umso größer der Schock, als ich am nächsten Tag Twitter öffnete und etwas von der Notwendigkeit von Hamsterkäufen wegen Corona in Berlin las. Ich lebte seit Tagen nur im Kino, was hatte ich verpasst, war ich in Gefahr? Ich las lieber nicht weiter.

Mit der Zeitschleife um den Fuß stolperte ich kurz nach meinem Berlinale-Besuch ins genaue Gegenteil: Ein Metal-Konzert in Elmshorn. Kein Glamour, kein Roter Teppich, dafür ein einsturzgefährdetes Gebäude und sämtliche Wiedergänger meiner Jugend. Lange Haare, Kutten, schnelle Gitarren; ich trug schwere Stiefel und zu viel dunkle Schminke um die Augen und hoffte auf der Bühne auf ein positives Feedback von meinem 16-jährigen Ich, das allerdings mit einem Waschbären in Nietenjacke flirtete und ihn morgen bei SchülerVZ gruscheln würde. Morgen muss ich wieder zurück in die Gegenwart und mit ihrem Tempo Schritt halten. Ich weiß nur leider nicht, wie das funktionieren soll. Ich bin jetzt schon zu müde dafür.

WE MOVE METAL

Ich bin wirklich gespannt, ob ich es schaffe, diesen Text zu Ende zu schreiben, denn ich bin so müde, dass es fast schon schmerzt. Das einzige, was noch mehr schmerzt, ist mein Nacken. Schon die ganze Woche habe ich aus den unterschiedlichsten Gründen zu wenig geschlafen. Einer davon waren Korrekturfahnen, die an einem Abend gegen 22:30 Uhr in mein Mailpostfach flatterten und die ich erst am nächsten Morgen korrigieren wollte, aber AUFGEREGT war ich trotzdem. Ein anderer Grund war ein Konzert, das in Köln zu spielen war und für das ich erst früh aufstehen musste und nach dem ich spät ins Bett gekommen bin und trotzdem wieder kriminell früh aufstehen musste.

Die Differenz zwischen den Zeitfenstern, die Musiker*innen auf der Bühne und auf dem Weg dahin/von dort weg verbringen, ist in den allermeisten Fällen erschreckend groß. Mein Wochenende besteht fast ausschließlich aus dieser Differenz. Lustigerweise (das schreibe ich, weil mir das immer niemand glaubt) spiele ich in einer Metalband mit verkopften, tendenziell zu langen Songs. Wir schaffen genau vier Stück davon in unserem Slot. Es gilt daher, auch den Zauber des großen Zeitfensters zu genießen. Die Autobahnraststätten zwischen Kiel und Köln werden von der Februarsonne, die sich sonst zur Zeit eher rar macht, spektakulär in Szene gesetzt. Auf einem LKW steht WE LOVE METAL und wir denken: Stimmt, wir auch. Dann gucken wir noch einmal genau hin und entdecken den Freudschen Verleser. In Echt steht dort WE MOVE METAL und wir denken: Stimmt, das tun wir jetzt gerade ja eigentlich auch. Ach ne, WE MOVE METALS steht da. Nun gut. In unserer Instagram-Story retuschiere ich das S einfach, dann ist es lustig. An derselben Raste kaufe ich ein NO MORE DRAMA LAMA-Eis am Stiel (Geschmacksrichtung: Salted Caramel und Strawberry Cheesecake) für 2,39 € und bezahle knapp die Hälfte davon in SaniFair-Bons. P., mit dem ich zusammen den Equipment-Truck fahre (in Wahrheit ist es nur ein Kombi, aber im Kofferraum befinden sich drei Gitarren, ein Bass, drei Effektboards mit insgesamt ca. 20 fußschalterbetriebenen Effektgeräten, Schlagzeug-Hardware und eine 2x12er Gitarrenbox), bekommt schon kurz vor Dortmund die Krise wegen der viel zu vielen Menschen überall, dabei sind wir noch auf der Autobahn und haben mit noch nicht einem einzigen unbekannten Menschen gesprochen. Köln ist um diese Zeit schon um 15 Uhr voller sturzbetrunkener Jecken. Eine seltsame Stadt! Wir landen zwischendurch in einer Karaokebar, melden uns brav zum Singen an und kommen aber stundenlang nicht an die Reihe. Also gehen wir uns noch eine Band angucken, deren Musik mindestens zur Hälfte Playback ist. Wo hängt nur der Monitor mit den Texten? In unserer AirBnB-Wohnung ist angeblich Platz für 6 Leute, artgerechte Haltung wäre aber nur bei 3-4 Übernachtungsgästen möglich. Wir schlafen gestapelt.
Mein Nacken schmerzt.
Mein Nacken schmerzt.
Mein Nacken schmerzt.