Am schlimmsten ist es eigentlich, wenn die Gegenwart gleichzeitig so arbeitsintensiv ist, dass ich nicht zum schreiben komme, und dazu noch so viele entsetzliche und gleichzeitig wenig überraschende Dinge passieren (Moria, rechte Netzwerke in der Polizei, zweite Welle, etc.) passieren, dass ich auch gar nicht wüsste, wo ich anfangen sollte. Das Einzige, was hilft: Zum ersten Mal seit Wochen wieder auf meiner Animal Crossing-Insel vorbeischauen. Ich weiß gar nicht so recht, warum ich so lange nicht da war, schließlich hatte ich Anfang August endlich meine heiß ersehnte Baulizenz in der Tasche. Naja, vielleicht weiß ich es doch. Ich erinnere mich noch an das überschwängliche Herumgebuddel, neue Plateaus, umgeleitete Flüsse und das anschließende Verwerfen aller Änderungen. Meine Insel war doch eigentlich schon ganz okay so, wie sie war, viel Strand, drei Hügel, ein Fluss, ein Teich und eine völlig außer Kontrolle geratene Tulpenplage aus der Zeit, als ich noch dachte, ich würde Insel-Mogul Tom Nook noch 50.000 Nook-Meilen schulden, die ich durch exzessives Gärtnern verdienen könnte. Fuck it, dachte ich eine Sekunde später und beseitigte die komplette Vegetation auf Hügel Nr. 3, um dort einen Freizeitpark zu bauen (in touristisch kluger Nähe zu meinem Natur-Campingplatz). Als ich fertig war, traf ich auf einen Inselbewohner, der mich über seine Umzugspläne informierte; er suche neue Herausforderungen und außerdem sei es ihm hier einfach zu voll. Ich dachte an das Grundstück, das ich für ihn ausgesucht und die Provision, die ich dafür bekommen hatte. Ich hatte es geschafft: Ich hatte die Insel gentrifiziert. Dann flog ich auf eine andere Insel, um dort meine Rüben für 500 Sternis zu verkaufen und rodete auf drei weiteren Inseln ganze Wälder, weil ich wusste, dass es für mich oder für das dortige Ökosystem keinerlei Konsequenzen haben würde. Willkommen im Kapitalismus, sagte eine Stimme in meinem Kopf, und ich fühlte mich schmutzig.
Heute war ich allerdings so verkatert (zwei Gin Tonic, aber auch ein 12-Stunden-Arbeitstag an einem Samstag – das dass in Zeiten von Corona in der Kulturbranche überhaupt geht), dass ich auf der Couch festklebte und Animal Crossing als fast einzige Beschäftigungsmöglichkeit in Reichweite war. Nach meiner zweimonatigen Abwesenheit hatte ich nun Ungeziefer im Haus und eine ganze Menge Unkraut zu jäten. Den anderen Inselbewohner*innen ging ich lange aus dem Weg (allerdings hatte ich mit der Obsternte auch viel zu tun und keine Zeit für Smalltalk) und besuchte sie später doch noch in ihren kleinen Häusern, in denen keiner von ihnen je ein zweites Zimmer angebaut hatte (bin ich die einzige kreditwürdige Person auf dieser Insel?). Sie zeigten sich besorgt und entsetzt über mein langes Fehlen, Du kannst doch nicht einfach abhauen und niemandem Bescheid sagen, wir haben uns Sorgen gemacht!, aber am Ende freuten sie sich doch, mich zu sehen. Ich stellte einigen von ihnen völlig überflüssige Tulpen vor die Tür und fühlte mich ein bisschen schlecht, aber immerhin: Diesmal wegen Sozialversagen und nicht wegen Raubtierkapitalismus (bin allerdings gespannt, ob ich wieder Provision bekomme, wenn jemand das leerstehende Haus kauft).