Ich will gar nicht schreiben, die Welt sei aus den Fugen geraten, weil: In welchen Fugen sollte sie denn vor dem 24. Februar gewesen sein? Oder vor (ca.) dem 13. März vor zwei Jahren? Oder vor dem 19. Februar 2020?
Am 22.02.2022 fange ich an, ein analoges Tagebuch (mit einem Stift, in ein Notizbuch) zu schreiben, um etwas mehr Ruhe in meinen Tagesablauf zu bringen. Einfach sitzen und schreiben, ohne auf einen Bildschirm zu schauen, während der Hund auf einer Decke neben meinem Stuhl zur Ruhe kommt. Wenn ich nicht entspannt bin, ist er es erst recht nicht. Wenn ich nicht entspannt bin, stromere ich rastlos in der Wohnung umher und suche nach Fehlern an mir und meiner Umgebung, die ich in absehbarer Zeit beheben sollte. Oder beobachte das Weltgeschehen durch verschiedene rechteckige Glasscheiben, die ein zielgerichtetes Eingreifen resolut verhindern. Das Apple-Mitteilungszentrum weist mich darauf hin, dass meine Bildschirmzeit in der vergangenen Woche durchschnittlich 24 Stunden betragen hat. Wenn der Hund nicht entspannt ist, zerstört er die Sofakissen oder bellt durchs Fenster andere Hunde an, die ihn nicht einmal hören oder riechen können. Nicht einmal Entspannung lässt sich ohne Arbeit herstellen. Ich schicke also den Hund auf seine Decke und schreibe in mein Notizbuch, dass es so aussieht, als könnte es bald Krieg geben (dabei gibt es ja schon die ganze Zeit Krieg, nur eben nicht im eigenen Vorgarten).
Ich finde es eigentlich sehr gut, vollumfänglich informiert in den Tag zu starten. Ich möchte wissen, welche Sorte Niederschlag mich heute erwartet und über welche Themen ich mich vielleicht mit Menschen unterhalten muss. Während ich am 24. Februar noch unter der Bettdecke liege, taste ich nach meinem Smartphone, lese, dass Putins Truppen jetzt tatsächlich die Ukraine angegriffen haben und denke: Fuck. Auf einer Karte zeigen Explosionssymbole die Angriffsziele der russischen Armee und ich spüre, wie die sich die Schwerkraft um meine Fußknöchel wickelt. Trotzdem stehe ich auf, koche Kaffee, gehe duschen, esse Müsli, höre die ersten Berichte im Radio und wer alles den Angriff bereits aufs Schärfste verurteilt hat, wecke den Hund und wir drehen unsere übliche Runde durch den Park. „Putin hat jetzt wirklich seine Truppen in die Ukraine geschickt“, sage ich zu M., der rauchend auf dem Balkon sitzt, als der Hund und ich wieder zuhause sind. Er weiß es natürlich längst. „Ich habe wirklich geglaubt, dass das mit Russland und der Ukraine so eine Krise in Sprechakten bleibt“, sage ich zu N., mit dem ich später für eine Hunderunde verabredet bin, „So wie alle anderen Krisen auch.“ (Wahrscheinlich habe ich Unrecht.)
Ich schaffe es nicht, mir das Doomscrolling morgens im Bett abzugewöhnen, also muss ich es wenigstens tagsüber eindämmen, mich beschäftigt halten. Lohnarbeit (keine gute Ablenkung weil gerade wirklich unfassbar sinnlos); in der Mittagspause eine Kleinigkeit essen, die Geschirrspülmaschine aus- und wieder einräumen. Die ersten Listen mit Hilfsgütern, die man irgendwo in der Nähe vorbeibringen und spenden kann, sichten und überlegen, was ich davon zuhause habe. Batterien und Stirnlampen stehen auf einer Liste zusammen mit unverderblichen Lebensmitteln. Ich habe eigentlich gar nichts davon zuhause, müsste ich das vielleicht ändern? Denke darüber nach, wo es Batterien zu kaufen gibt und spende am Ende doch lieber einfach Geld, bevor ich die falschen Batterien kaufe. Sonntags gehe ich in den Schrebergarten, um die Löcher in der Hecke mit Gehölzschnitt zu stopfen, damit der Hund nicht mehr stiften gehen kann. Als ich wieder nach Hause komme, die Hände und Unterarme trotz Gartenhandschuhen voller kleiner Dornen, erzählt M., dass Putin jetzt seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt hat. Ich weiß gar nicht, was ich darauf antworten soll – dass ich mir nicht vorstellen kann, dass er ganz ernsthaft Atomwaffen einsetzen würde?
Irgendein Waffensachverständiger schreibt bei Twitter, dass taktische Atomwaffen unter Umständen gar nicht so schlimm sind; jedenfalls weniger schlimm für Europa als Tschernobyl damals und dass die Leute heute in Hiroshima ja wieder ganz glücklich leben könnten. Die Grenzen des Sag-, Vorstell- und Aushaltbaren verschieben sich im Sekundentakt. Ab Einbruch der Dunkelheit spiele ich so lange Witcher III, bis mir die Augen zufallen; anders geht es gerade nicht. Wie gut sich Kämpfe in diesem Universum durch kluge Diplomatie vermeiden lassen, stimmt mich wehmütig. Die Drowner und Water Hags, die sich mir an manchen sumpfigen Ecken in den Weg stellen, röste ich trotzdem scharenweise mit dem Feuerzeichen.
Mein Herz bleibt fast stehen, als ich an einem der ersten Märztage lese: Angriff auf Atomkraftwerk in der Ukraine. Obwohl dort auch steht: Der Reaktor wurde nicht getroffen, der Brand gelöscht, es wurde keine erhöhte Strahlung gemessen, kann ich lange nicht aufstehen, muss mich schließlich aber zusammenreißen, ich muss ja trotzdem mit dem Hund raus.
Ein paar Tage später sehe ich Videos von russischen Panzern, die von ukrainischen Traktoren abgeschleppt und vermutlich später bei eBay verkauft werden und bemerke ein neues Gefühl: Absolut nicht sensationslustig zu sein und sich von tiefstem Herzen zu wünschen, dass das alles so schnell wie möglich vorbei geht. Aber aktuell geht überhaupt nichts vorbei, die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine bringen keine Ergebnisse (als Ukraine würde ich mich auf Putins Forderungen allerdings auch nicht einlassen), die Corona-Neuinfektionen klettern wie Reinhold Messner und trotzdem soll schon wieder gelockert werden und vor meinem Fenster laufen die verdammten Coronaleugner lang und spielen „Ein bisschen Frieden“ auf voller Lautstärke. Bitte, ich möchte mich vergraben.
Fühle jedes Wort. Hab einen Kloß im Hals und im Herzen beim Lesen. Wünsche mir gähnende Ereignislosigkeit. Liebe geht raus an dich und alle, die gerade einfach Strugglen!
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