1.
Der September ist ein Sitzmonat: Ich sitze in der Regionalbahn, am Schreibtisch, auf mehrheitlich kleinen Bühnen und außerdem in der Klemme wegen eines Vortrags, den zu schreiben und vorzutragen ich mich in keiner Weise qualifiziert fühle (was recht offensichtlicher Quatsch ist, schließlich war es auch kein Problem, das Exposé dafür zu schreiben). Ich will mich auf das konzentrieren, was ich zu tun habe. Lesungen vorbereiten, Lesungen durchziehen (es sind eigentlich nur vier und einmal Lesebühne als showrunner, wie ich mich dort gerne bezeichne, aber nach einer derart langen Periode der Veranstaltungslosigkeit kommt mir alles, was mehr als einmal hintereinander passieren soll, wie eine Welttournee vor), Vortrag schreiben, vielleicht noch DAS PROJEKT weiterschreiben (passiert natürlich nicht), um das es u.a. in besagtem Vortrag gehen soll (gibt es DAS PROJEKT überhaupt wirklich oder habe ich es am Ende gar nur für DEN VORTRAG erfunden?), dazwischen Hunderunden und Lohnarbeit. Das Alternativprogramm wäre: Wahlkampf verfolgen. Bis zum 4. September fiebere ich dem Release der Wahl-o-Mat-Edition für die Bundestagswahlen entgegen, um dort ungefähr dasselbe Ergebnis einzufahren wie immer und am 6. September meine Briefwahlunterlagen einzuwerfen. Es ist ein guter Monat, um das Internet weitestgehend abzuschalten. Trotzdem beobachte ich ab und zu Armin Laschets selbstgerechten, hinterlistigen, dilettantischen Versuch, sich auf die rheinländische Onkeltour ins Kanzleramt zu wieseln (gottseidank erfolglos). Ich denke dabei an einen Sattelschlepper, der in eine Sackgasse ohne Wendemöglichkeit gefahren ist und bei seinem hakeligen Rückzugsmanöver versucht so zu tun, als hätte er da eh nur kurz reinschauen wollen. Das Wahlwochenende verbringe ich damit, zwischen den Hunderunden auf das Textdokument mit dem Vortrag zu starren und es zwischen 20 Uhr und 22:30 Uhr um ein paar Zeilen zu ergänzen. Als ich am Montag darauf, an dem ich eigentlich frei hätte, überraschend meiner Lohnarbeit nachgehen muss, bekomme ich einen Heulkrampf. Nachts liege ich wach, weil meine Knie schmerzen.
2.
Ich komme mir unheimlich schlau vor, als ich in das Textdokument mit meinem Vortrag die Behauptung tippe, dass die Klimakrise jetzt schon Teil unseres alltäglichen Erlebens ist und zwar in Form von Extremwetterereignissen direkt vor unserer Haustür (Starkregen, Gewitter, Überschwemmungen, sehr trockene Sommer) UND im Social Media-Feed, der ja auch zur erlebten Welt gehört, und dass alle der genannten Dinge deswegen als Wirklichkeitseffekt in einer Erzählung (angeblich auch in DEM PROJEKT) eingesetzt werden können. Als ich ein paar Tage später zwecks Lesebühnendurchführung zur Hansa48 radele, regnet es ärgerlich und ich frage mich, wie es sein kann, dass ich obenrum eine wasserdichte Funktionsjacke trage, es an den Füßen aber nur für löchrige Stoffschuhe gereicht hat. Um 17:35 Uhr stelle ich mein Fahrrad vor dem Eingang ab und wir beginnen, die Bühne aufzubauen. Ab 19 Uhr drängeln sich die Mitteilungen auf meinem Handydisplay: Ob es mir gut gehe, ob ich in Sicherheit sei, es habe doch diesen Tornado an der Kiellinie gegeben. Ich bejahe und beruhige und bin gleichzeitig verwirrt. Der Raum, in dem ich seit fast zwei Stunden herumwerkele, hat keine Fenster, und selbst im Innenhof der Hansa48 müsste ich mir den Nacken verrenken, um einen guten Überblick über die Wetterverhältnisse zu bekommen. Die Regentropfen auf meinen Schuhen sind längst getrocknet, aber ein kurzer Blick auf Instagram verrät, dass zwei Kilometer Luftlinie von hier tatsächlich eine Art Tornado durch die Innenstadt und durch die Förde gefegt sein muss. Was mache ich nun mit dieser Information? Ich bin völlig ratlos und überprüfe besser noch einmal die Einstellungen am Lichtmischpult.
3.
Am letzten Tag im September starte ich meine erste lange Zugreise seit dem ersten Lockdown. Die Kronen der Bäume, die sich südlich von Kiel zwischen Feldern und Dörfern gruppieren, tragen nur vereinzelt rostige Herbsttöne. In dem ICE, in den ich in Hamburg steige, wundere ich mich über eine Frau, die Langlaufski in der Gepäckablage verstaut. Andererseits: So weit sind die Alpen von meinem Reiseziel nicht entfernt. Wer weiß, was sich dort schon im September mit Langlaufski alles ausrichten lässt.
In die Tagung, zu der ich hier anreise, platze ich verspätet. „Schade, du hast gerade einen ganz kontroversen Vortrag verpasst“, bedauert einer der Gastgeber, während er mich durch die Einlasskontrolle der Tagungslocation schleust. „Dass du hier einfach so etwas über Marxismus in den Raum stellst!“, entrüstet sich ein älterer Tagungsgast in der Diskussion, den ich nicht sehen kann, weil er irgendwo hinter mir sitzt. Den Referenten scheinen diese Anschuldigungen kalt zu lassen. Die Großbuchstaben auf dem Deckblatt seines Manuskripts sagen: WASCH MIR DAS FELL, ABER MACH MICH NICHT NASS. Ein anderer älterer Tagungsteilnehmer erzählt: „Ich hatte früher auch ein ganz schlimmes Problem mit den Grünen. Ich mochte nicht, was sie anhatten und auch nicht, was für Lieder sie gesungen haben. Aber was sollte ich auch machen. Ich war in einer Wave-Band.“ Den Versuch, anhand der Diskussionsbeiträge herauszufinden, worum genau es in dem verpassten Vortrag ging, gebe ich schnell wieder auf. Stattdessen die Befürchtung: Werden sie mich morgen früh nach meinem Vortrag genauso grillen? Der Satz: „Dass du dich hier schon seit Jahren immer so als Anarchist profilieren musst. Ich war früher auch so, aber ich habe mich da ja weiterentwickelt“ fällt zum Glück erst Stunden nach meinem Beitrag und gilt nicht mir. „Das Schlimmste, was dir hier passieren kann, wäre dass keiner auf deinen Vortrag reagiert!“, sagt J., als wir am 1. Oktober durch die Fürther Innenstadt zum ersten Tagungsblock spazieren. Es ist überraschend kalt, wie auch schon in der vorausgegangenen Nacht, und ich trage beinahe alle Klamotten, die ich dabei habe, auf einmal. Ich hätte den Tornado noch einbauen müssen, denke ich, hätte ich bloß Zeit dazu gehabt, wäre ich im Zug nicht so müde gewesen, wären ab Mittwoch bloß noch zwei oder drei Tage mehr Zeit zur Vorbereitung gewesen. Nach meinem Vortrag fragt mich ein unironischer Österreicher zu einer Überlegung, die ich mir aus meinem Halbwissen über Silvia Federicis marxistische/feministische Positionen und die Dialektik der Aufklärung zusammengeschustert habe, ob er das so verstehen müsse, dass ich quasi zurück in die Steinzeit (also eine voraufklärerische Zeit) wolle. Nein, aber ich finde es lustig, wie viel Unbehagen eine geringe Dosis Ökofeminismus selbst bei linken Männern verursachen kann und stifte generell gern Unruhe!, hätte ich antworten müssen. Stattdessen sage ich: Irgendwas anderes. Der halbe Liter Weinschorle, die mir ein unfassbar gestresster Kellner am Abend hinstellt, gerät im Expressversand in meine Blutbahn. Als Abspannmusik für diesen Tag laufen Oasis und der Tagungsteilnehmer, der einmal in einer Wave-Band war und die Grünen nicht gemocht hat, singt den Refrain von Don’t Look Back In Anger – allerdings nie dann, wenn er im Song an der Reihe wäre und auch dann noch, als er längst vorbei ist.
Ein Gedanke zu “Blätter im Sinkflug”