Jemand hat einen Bürostuhl draußen vergessen, und zwar auf der Verkehrsinsel vor meinem Fenster. Dass Möbel hier an der Straße stehen, ist an sich nicht unüblich, auch außerhalb organisierter Sperrmüllbestellungen stehen sie oft zurückhaltend an den Häuserwänden am Westring und finden mit ein bisschen Glück ein neues Zuhause, bevor sie im Nieselregen aufweichen. Wie lange wird der Bürostuhl auf der Verkehrsinsel verweilen? Alle paar Minuten stehe ich auf und schaue aus dem Fenster, um vielleicht den Moment mitzubekommen, in dem sich jemand dazu entschließt, ihn von diesem Nicht-Ort wegzurollen (keine Veränderung allerdings seit ungefähr einer Stunde).
Die größte Herausforderung heute: Nicht permanent entsetzt darüber schnauben, dass wir den 9. November schreiben und Veranstaltungen, bei denen der Reichsprogromnacht gedacht werden soll, wegen Corona nicht stattfinden dürfen, aber die abscheulichen Menschen, die in Braunschweig eine Demo mit dem Titel „Gemeinsam Geschichte wiederholen“ um 18:18 Uhr angemeldet haben, genießen die Freiheit, ihre Naziveranstaltung selbst absagen zu dürfen. In Dresden darf sogar die Pegida-Demo (dass es die überhaupt noch gibt!) wie geplant stattfinden. Ich wünsche allen, die so rechts besorgt sind, dass sie an dieserlei Veranstaltungen teilnehmen bzw. geplant haben, teilzunehmen: Sie mögen zur Hölle fahren!
Natürlich weiß ich, dass es so etwas wie eine Hölle nicht gibt, aber wenn diese Leute und vor allem ihre Denkweisen an einen Ort verschwinden, der gar nicht existiert, soll es mir ebenso recht sein. Allerdings ist zu befürchten: In einer Gesellschaft, deren größte Integrationsleistung wohl immer noch die Integration ehemaliger Nationalsozialist:innen in die Nachkriegsgesellschaft ist (vgl. Max Czollek: Desintegriert euch! München 2018, S. 47), werden Rassismus und Antisemitismus immer wieder wie Methanblasen an die Oberfläche steigen.