Ich checke schon seit Jahren morgens als allererstes die Nachrichten, und zwar dank Smartphone lange, bevor ich auch nur daran denke, das Bett zu verlassen, und zwar aus einem einzigen Grund: Sollte die Apokalypse unmittelbar bevorstehen, würde ich mich gerne einfach wieder umdrehen und noch eine Runde schlafen, denn dann ist ja eh alles egal. Im zweiten Snooze-Intervall um kurz nach halb acht öffne ich Twitter und lese von der knappen Wahlkiste in den USA und dass Trump irgendwas zum Supreme Court tragen will (nur: was?). Ich bin kein Stück überrascht, dass die Prognosen nicht auf einen Erdrutschsieg für Biden hindeuten, das sind schließlich immer noch die USA, die dort wählen. Was mich hingegen unerwartet hart trifft, ist der Punkt auf der Corona-Karte, der für Kiel steht und der über Nacht auf rot umgesprungen ist. Es ist erst zwei Tage her, dass er überhaupt eine Farbe (orange) bekommen hat, aber das ist wohl dieses exponentielle Wachstum, mit dem wir es noch eine Weile zu tun haben werden. Immerhin stellt sich die Entscheidung für einen Hund in meinem Leben jetzt schon als eine sehr gute heraus, denn es gibt wenig Nachrichten, deren Einschläge im Gemüt sich nicht zumindest temporär durch ein paar Welpenfotos abfedern lassen (Statusupdate: kleine Riesenbohne ist immer noch sehr klein, verlässt aber bereits eigenständig das Körbchen; t-38 Tage=Hund).
Zur Zeit lese ich „Störfall“ von Christa Wolf, eine Erzählung, in der die verheerenden Nachrichten aus Tschernobyl in den Alltag der Erzählerinnenfigur einschlagen. Selbstredend geht es hier um mehr als kontaminiertes Blattgemüse und Pilze (die allerdings auch vorkommen). Obwohl Tschernobyl noch einmal eine ganz andere Katastrophendimension hatte als die jetzige Situation (zumindest glaube ich das als Nachgeborene), lässt sich in den Text viel aus unserer Gegenwart hinein- und über sie herauslesen. Wolf schreibt darin zum Beispiel:
„So könnte man also […] menschliche Wesen eine gewisse Zeit lang – zwanzig Jahre? fünfundzwanzig? – ein normales, ja, ein besonders reiches menschliches Leben führen lassen, mit dem Ziel, ihren Erinnerungsspeicher ‚bis an den Rand‘ zu füllen. Danach würden diese Wesen der ihnen eigentlich zugedachten Bestimmung zugeführt oder ausgesetzt: einem öden Dasein in irgendeiner Apparatur, einer unterirdischen Raketenstation, einem Weltraumschiff. Und ein Spezialist würde sie in den ihnen bekömmlichen Intervallen an den Erinnerungsstrom hängen. Liebe. Feindschaft. Erfolg. Versagen. Zärtlichkeit. Konflikte. Naturschönheit – alles würden sie, so intensiv sie können, wieder und wieder durchleben. Der tödlichen Langeweile ihres ‚wirklichen‘ Daseins könnten sie nicht zum Opfer fallen. Der Wunsch, lieber zu sterben, als ein solches Leben weiterzuführen, könnte nicht Macht über sie gewinnen. Ihr Gehirn hätte sich hinter ihrem Rücken (wie unangemessen die Sprache wird!) gegen sie zusammengeschlossen mit ihren Manipulatoren. Als Objekte der erbärmlichsten Sorte würden sie -“ (Christa Wolf: Störfall. München 1994, S. 90f.)
Die Gedanken in diesem Text enden grundsätzlich mitten im Satz, genau wie meine in diesen Tagen (daher auch keine weiteren Bemerkungen zu Störfall, außer: Lest das!), also denke ich etwas Unvollständiges und stehe auf, um mich meinem öden Dasein, also der erlaubten Produktivität hinzugeben. Durch das Blubbern des Wasserkochers dringt die Nachricht, dass Trump das Ding schon für eingelocht erklärt, obwohl es seinen Rollvorgang noch gar nicht beendet hat. Vielleicht gehe ich doch noch mal eine Runde schlafen.
Irgendwie auch diffus zum Beklemmenden Gefühl dieser unangenehmen Zeit passend: „,Memoiren einer Überlebenden“ von Doris Lessing.
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Oh, das kommt direkt auf die Leseliste!
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