Das brennende Herz

Ich bin im Begriff, etwas zu tun, wovor alle warnen: Schaff dir bloß keinen Hund an! Trotzdem war ich Freitag Welpen angucken, wovor ebenfalls alle gewarnt haben: Mach das bloß nicht, dann nimmst du am Ende noch einen mit! (Als ob irgendeine halbwegs seriöse Person mit Welpenverantwortung einem einfach so einen Hundewelpen mitgeben würde – braucht ihr eine Tüte? Nee danke, der geht so mit. So läuft das nicht!). Das einzige, was M. und ich mit nach Hause genommen haben, waren ein paar verwackelte Fotos von einer Art gefleckter Riesenbohne mit rosa Füßen und rosa Nase. Es dauert noch 48 Tage, bis die Riesenbohne groß genug ist, um bei uns einzuziehen. Seit unserem Besuch an dem magischen Ort, an dem die Hundewelpen spawnen, sind nun knapp zwei Tage vergangen, in denen die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Kiel von 60 auf 75 geklettert ist (kann sein, dass der Startwert am Freitag sogar erst bei 50 lag, ich weiß es nicht mehr genau). In der gesamten Bundesrepublik haben die täglichen Neuinfektionen mittlerweile einen Wert erreicht, den ich mit meinem eher schlechten Zahlenverständnis kaum erfassen kann. Ich verbringe Stunden damit, abwechselnd Erziehungstipps für Hundewelpen zu lesen und auf Diagramme mit stark exponentiell ansteigenden Kurven zu starren. Die Kieler Infektionskurve ist seit der Geburt der kleinen Riesenbohne vor 15 Tagen von einem halbwegs beruhigenden Wert auf den Wert von April geklettert. Wie steil kann sie noch werden, bevor sie sich zur vertikalen Linie verwandelt? Was natürlich aufgrund der fortlaufenden Zeitachse keine darstellerische Option ist, aber eine beruhigende Erkenntnis ist das nicht. Vor uns liegen ein noch nicht ganz aufgebrauchter Oktober, ein ganzer November und noch ein paar Tage Dezember; knapp sieben Wochen, eine Zeitspanne, über die der Trend sagt: ES WIRD ALLES RICHTIG BESCHISSEN, und ich bin kurz davor (in Wahrheit schon dabei), eine höhere Macht anzuflehen: Bitte kein Weltuntergang, so lange der Hund noch nicht da ist! (Und danach gerne auch nicht).

Eigentlich sollte ich entspannter sein, ich bin schließlich nicht schwanger während Corona, sondern warte nur auf meinen Hund, mit dem ich ja auf jeden Fall rausgehen muss/darf, egal, wie streng der nächste Lockdown wäre. Vielleicht ist es auch nur so, dass ich dieses mir bisher unbekannte Cuteness-Level in meinem Leben gegen alles Hässliche in der Welt verteidigen möchte und gleichzeitig fürchte, dass ich es nicht kann. Und so weiß ich zum ersten Mal während der Pandemie tatsächlich nicht, wie ich die Zeit bis zu Zeitpunkt X totschlagen soll, obwohl ich bis dahin eigentlich genug zu tun habe. Doch das wissen vermutlich alle, die schon einmal in prekären Zeiten auf etwas gewartet haben: Brennende Herzen sind nicht gut im Sitzen.

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