Mit Kain und Abel chillen im Wald

[irgendwann im letzten August]

Nördlich von Åmål nimmt die Bevölkerungsdichte drastisch ab. Wir sind heute zum zweiten Mal in unserem Leben in Trollhättan gewesen, wo der Film Raus aus Åmål gedreht wurde und wo sich in der Sommersaison täglich um 15:00 Uhr die Schleusentore zu einem rauschenden Wasserfall öffnen. Als wir vor dem Schleusentor standen, war es 15:15 Uhr und der Wasserfall längst nur noch ein plätscherndes Rinnsal.

Die Straße nach Lenungshammar schlängelt sich in Mauskurven durch den Wald. Für jeden Menschen, der hier nicht lebt, gibt es drei Hektar Wald. Unser Ziel liegt im Naturreservat Glaskogen. Das Dorf Lenungshammar ist gleichzeitig die zentrale Anlaufstelle für alle Wandergäste. Richtige Dorfbewohner*innen gibt es hier nicht. Dafür kann man im Café Carl Eintrittskarten für den Wald kaufen. Wir werden zum Zelten auf eine Lichtung ein paar Kilometer weiter geschickt. Dort stehen nur wenige andere Zelte und einige Plumpsklos. Zwischen den Tannen liegt ausgebreitet ein See, in dem sich friedlich der Himmel spiegelt.

Bei den Zeltnachbarn tobt zuweilen der Krieg: zwei Brüder jagen sich gegenseitig im Kreis, mit übergroßen Ästen in ihren kleinen, dreckigen Händen. Unter der Softshellverpackung ihrer Eltern lugt ein kompostierbarer Lebensstil hervor. Bioladen, Dinkelvollkornmehl und Waschnüsse, die Kinder vermutlich auf der Waldorfschule. Sie tragen biblische Namen, aber während sie im Kreis rennen und sich gegenseitig mit ihren Stöckern zu erschlagen versuchen, nennen sie sich gegenseitig nur DICKES FETTES NILPFERD. Die Eltern bieten Schokolade im Tausch gegen Ruhe, ein schlechtes Geschäft im Angesicht des herannahenden Zuckerschocks. Kain und Abel auf fair gehandeltem Speed. Unten am See halte ich meine Füße ins Wasser und stelle fest: Mücken mögen den Zimt in meinem Blutkreislauf.

Am nächsten Tag stapfen wir mit Regenjacken und Winterstiefeln durchs Unterholz, geleitet von blauen Punkten, die an Steine und Baumstämme gepinselt wurden. Es soll hier Elche geben, ganz sicher auch Füchse und Dachse, möglicherweise sogar Wölfe. Ob die an nassen Tagen wie heute überhaupt ihr Versteck verlassen? Wir wollen eine kleine Bucht des großen Sees umrunden, es scheint laut Karte eine Wanderstrecke über eine Insel zu geben, vermutlich mit Brückenüberquerung. Es geht bisweilen steil bergauf und ich muss an den Anfang von Lenz denken, von Georg Büchner, ohne den ich mich nie ernsthaft für Literatur interessiert hätte.

Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump.

Wenn man sich den Schnee wegdenkt, sieht es hier genau so aus, und es fühlt sich ähnlich an wie für Lenz, der eine bedauernswerte Figur ist mit all seinen Dämonen im Gepäck.

Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts.

Auch wir finden nichts, keine Elche, keinen Wolf und auch nicht die Brücke, die uns zu der kleinen Insel, die nur einen Steinwurf vom Ufer entfernt liegt. Dabei muss die rote Linie auf der abfotografierten Wanderkarte doch einen Übergang bedeuten! Das Bild wird gedreht und gewendet, sind wir hier richtig? Erst, als eine Gruppe Teenager in Schlauchboten am Ufer entlangrudert, hat M. einen Verdacht: Die Rote Linie zeigt einen Weg, der ausschließlich für Reisende auf dem Wasser bestimmt ist.

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